In Bezug auf Politik lügt Kunst nie
IM WORTLAUT / FESTREDE NINA CHRUSCHTSCHOWA
26/07/24 „Die beste Kunst erwächst aus Leid – in den unterschiedlichsten Kontexten und auf allen Kontinenten“, so Nina Chruschtschowa in ihrer Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele heute Freitag (26.7.) in der Felsenreitschule. Aus vielen literarischen werken liest die höchst belesene Politikwissenschafterin heraus, „dass Kunst nicht allein Unterdrückung dokumentiert, sondern auf der Suche nach einem Lebenssinn auch einen Weg zum Überleben darstellen“ könne: „Kunst rettet die Welt jeden Tag, in jedem Jahrhundert und in jeder Generation.“
Von Nina Chruschtschowa
Seit ihren berühmten Anfängen im Jahr 1920 feiern die Festspiele die Kunst und insbesondere die Oper – eine der anspruchsvollsten unter den Kunstformen, die das menschliche Dasein dramatisierend darstellt. Wie die Bezeichnung „Oper“ bereits impliziert, ist Kunst ein „Werk“, eine endliche Anstrengung. Ihre Wirkung ist jedoch transzendent, über die Grenzen der Erfahrung hinausweisend, und sie formt und beeinßusst unsere Politik und Kultur.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts veröffentlichte die britische Regierung eine Liste der zehn wichtigsten Notfallmaßnahmen zur Verteidigung im Krisenfall. Auf dieser Liste stand auch die Rettung der berühmten Tizian-Gemäde aus der National Gallery. Stellen Sie sich vor, unsere hochgeschätzten Meisterwerke von Tizian – Noli me tangere (um 1514) oder Allegorie der Klugheit (um 1550–1565) – erlitten das gleiche Schicksal wie die Schätze des irakischen Nationalmuseums in Bagdad nach der amerikanischen Invasion 2003 und wurden von Plünderern geraubt. Wenn es in Österreich noch keine derartigen Vorkehrungen gibt, wäre es vielleicht angebracht, solche zu treffen, um die zahllosen Meisterwerke in den Kunstsammlungen des Landes zu schützen, nicht zuletzt die unvergleichlichen Bruegels im Kunsthistorischen Museum.
Das Beispiel Tizians spricht gegen die oft zu hörende Behauptung, die „hohe“ Kunst sei tot und die Welt von Belanglosigkeiten beherrscht. Tatsächlich können wir es uns in Friedenszeiten leisten, uns mit kleinen, alltäglichen Dingen zu beschäftigen und zu zerstreuen. Der Kriegszustand ändert jedoch die Verhältnisse. Nationen wertschätzen ihre kulturelle Individualität ebenso sehr wie ihr Territorium, ihre Bodenschätze und ihre Finanzinstitute.
Kunst wird zu einem Schlachtfeld. Vergangenes Jahr verabschiedete der ukrainische Gesetzgeber das nach dem russischen Dichter des 19. Jahrhunderts Alexander Puschkin benannte „Anti-Puschkin-Gesetz“, das die Vernichtung von Kulturgütern mit Bezug zur russischen und sowjetischen Geschichte in der Ukraine ermöglichte. Zahlreiche als Symbole zaristischer und totalitärer Ideologie angesehene Kunstwerke, unter anderem Gemälde, Skulpturen und Bücher russischer Künstlerinnen und Künstler, wurden verboten oder zerstört.
Die kulturellen Zeugnisse einer anderen Nation oder ethnischen Gruppe pauschal zu vernichten ist aus meiner Sicht keine gangbare Politik. Aber unter den gegenwärtigen Umständen sollte es kein Russe wagen, den Ukrainern vorzuschreiben, wie sie ihre Vergangenheit zu bewältigen oder ihre Zukunft zu gestalten haben. Ich bin nicht die Einzige und auch nicht die Erste, die ein derartiges Vorgehen infrage stellt.
Dazu möchte ich George F. Kennan, einen der bedeutendsten amerikanischen Diplomaten, zitieren. In einer Rede im New Yorker Museum of Modern Art erklärte er 1955, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges: Nur durch das Erschaffen von Schönem und durch die großen, bedeutenden Schöpfungen des Geistes ist es den Menschen gelungen, eine verlässliche Brücke zwischen den Nationen zu schlagen, selbst in den finstersten Augenblicken politischer Verbitterung, des Chauvinismus und der Überheblichkeit.
Das heißt, dass die Kraft der Kunst in Krisenzeiten sprunghaft ansteigt. Warum? Kunst ist prophetisch. In Bezug auf Politik lügt Kunst nie. Selbst wenn die Politik ihre Agenda noch nicht formuliert hat, die Kunst hat sie bereits enthüllt. Ein Paradebeispiel dafür ist Stanley Kubricks satirisches Meisterwerk von 1964, Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, dessen Figuren den Protagonisten in der Regierung von George W. Bush während des Kriegs gegen den Terror in den frühen 2000er-Jahren bemerkenswert ähnlich sind. Angesichts des heute zunehmenden nuklearen Säbelrasselns aus Russland und anderen Ländern lohnt es sich, den Film noch einmal anzuschauen.
Im Jahr 2006 schrieb der russische Autor Wladimir Sorokin den Roman Der Tag des Opritschniks. In diesem Buch ist das russische Zarenreich wiederauferstanden, und die Gefolgsleute der Regierung haben das Sagen. Damals haben wir es als bloße Fiktion abgetan. Heute liest es sich wie die Realität. Nach der kürzlich erfolgten Vereidigung Wladimir Putins als Präsident für seine fünfte Amtszeit – im vor Zarengold strotzenden Kreml – wird unabhängiges Denken brutal bestraft. Dies ist keine dystopische Absurdität mehr, wie Sorokin sie beschrieb, sondern im heutigen Russland Alltag. Als ich in der Sowjetunion lebte, haben wir George Orwells Dystopien als Fiktion gelesen. Doch heute ist Orwell eine Anleitung zum Überleben geworden. Letztes Jahr entdeckte ich in einer Buchhandlung in Sankt Petersburg eine auffallende Schaufensterauslage zu seinem Roman 1984. „Wir dürfen nicht vergessen, in was für einer Welt wir leben“, war der Kommentar des Ladenbesitzers dazu.
Im Jahr 1947 schrieb Kennan in Foreign Affairs einen berühmten Artikel über Die Ursprünge des sowjetischen Verhaltens. Wenn wir uns heute die Ursprünge des russischen Verhaltens ansehen, stellen wir fest, dass der Schriftsteller Fjodor Dostojewski vieles davon bereits im 19. Jahrhundert erklärt hat. In einem Brief von 1873 an den zukünftigen Zaren Alexander III. schrieb er: „Große Nationen haben […] nur deshalb ihre große Macht entfaltet […] und der Welt gedient – und sei es auch nur durch einen einzigen Lichtstrahl –, weil sie […] unverschämt unabhängig geblieben sind.“
Deswegen behauptet Putin, Russland sei eine „souveräne Zivilisation“ und handele daher so, wie es handeln müsse. Wäre Putin ein aufmerksamerer Schüler, hätte er begriffen, dass Dostojewskis Ruf nach nationaler Unabhängigkeit weniger einem Streben nach Macht entsprang, sondern der Überzeugung, dass der einzigartige Beitrag eines jeden Landes einen Mehrwert für alle Nationen der Welt darstellt. Stattdessen besteht der russische Präsident darauf, ein imperiales Erbe anzutreten, das seiner Meinung nach in der Vergangenheit von vielen großen Künstlern befördert worden sei. Die sich darin manifestierende Verbindung zwischen Politik und Kultur ist außerordentlich tiefgreifend, wie ich an anderer Stelle bereits dargelegt habe: „Die Weigerung [Europas], sich mit der russischen Kultur zu befassen, wird Putin nicht dazu zwingen, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, aber sie kappt eine potenzielle Informationsquelle über seine Ziele und Motive.“
Kunst ist befreiend. Der verstorbene russische regimekritische Philosoph Andrei Sinjawski (der unter seinem Pseudonym Abram Terz bekannt ist) verbrachte den größten Teil der 1960er-Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager, weil er sich kritisch über den kommunistischen Staat geäußert hatte. In seinen Memoiren Eine Stimme im Chor (1974) beschrieb Sinjawski die Liebe des Gefangenen zur Kunst: „Mit dem gleichen Eifer, mit dem man draußen ins Konzert geht, hören wir uns sonntags eine Beethoven-Platte an, […] weil Dinge, die schwer aufzutreiben und selten sind, hier Macht und Gewicht und allgemeine Beachtung erlangen. […] Es geht […] um den Anspruch der Sache, die aus einer alltäglichen und nichtigen zu einer kostbaren geworden ist.“
In Unfreiheit hat Kunst eine größere Bedeutung. Vor dem Zusammenbruch des Kommunismus Ende der 1980er-Jahre bemerkte der verstorbene amerikanische Schriftsteller Philip Roth zum Unterschied zwischen dem Leben eines Romanautors im freien Westen und dem Leben eines Romanautors hinter dem zensierenden Eisernen Vorhang: „In Osteuropa ist nichts erlaubt, aber alles von Bedeutung; bei uns ist alles erlaubt, aber nichts von Bedeutung.“ Tatsächlich betrachteten die Menschen in Russland, dem Zentrum des kommunistischen Reiches hinter dem Eisernen Vorhang, Kultur anders als die Menschen im Westen. Kultur war unsere Freiheit. Sie war eine Flucht – eine geistige, wenngleich nicht physische Freiheit, die uns das sowjetische System verwehrte. Kunst nicht zu schätzen war ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten.
Der bekannte polnische Journalist Adam Michnik, in den 1980er-Jahren einer der Anführer der obrigkeitskritischen Solidarność-Bewegung, studierte im Gefängnis Russisch, um Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski im Original lesen zu können. Er beschrieb diese Lektüre als eine der großartigsten Erfahrungen seines Lebens.
Diese Schriftsteller ermöglichten ihm nicht nur eine Flucht in ihre Fantasiewelten, sondern beeinflussten und prägten auch sein Verständnis davon, wie er die sozialistischen Machthaber am besten bekämpfen könne. 1985 verfasste Michnik einen Brief aus einem Danziger Gefängnis, in dem er beschrieb, wie die Repressionen der despotischen Regierungen in eine Sackgasse der Zerstörung führen würden. Und genau so geschah es – der Eiserne Vorhang fiel nur wenige Jahre später.
Heute wiederholt sich die Geschichte im Osten Europas. Eine der ausverkauften Veranstaltungen der diesjährigen Salzburger Festspiele ist eine Lesung von Alexej Nawalnys Briefen aus dem Gefängnis. Diese Briefe sind wie jene Michniks literarische Zeugnisse des Lebens in Gefangenschaft. Nawalny ähnelt den politischen Gefangenen der Generationen vor ihm, die das menschliche Dasein in Zeiten der Unterdrückung und Krise darstellten.
In seinem Buch Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von 1862 schilderte Dostojewski seine Erfahrungen aus fünf Jahren in einem sibirischen Arbeitslager, wo er als Strafe für seine Verbindung zu einer gegen Zar Nikolaus I. gerichteten politischen Gruppe inhaftiert war. 1962 schrieb Alexander Solschenizyn in Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch über seine Erfahrungen in Josef Stalins Gulag, wo er fast zehn Jahre verbrachte. Und 1967 erschien Journey into the Whirlwind (Marschroute eines Lebens) von Eugenia Ginzburg, die darin beschreibt, wie sie in den 1930er-Jahren versuchte, im Gefangenenlager von Magadan in der Nähe des Polarkreises zu überleben. Diese Werke belegen, dass Kunst nicht allein Unterdrückung dokumentiert, sondern auf der Suche nach einem Lebenssinn auch einen Weg zum Überleben darstellen kann. Sie zeigen uns, wie man durchhält, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren – und zugleich einen Beitrag zur Besserung der Menschheit leistet.
Kunst ist idealistisch. In einer Art alchemistischem Prozess kann ein Kunstwerk – wie ein Gemälde oder eine Skulptur, eine Symphonie oder eine Oper, ein Roman oder ein Gedicht – das Beste in uns zum Vorschein bringen. Leid und Schmerz sind in Russland allgegenwärtig und existenziell – was schlecht für das Leben ist, aber gut, um Meisterwerke zu schaffen. Und diese Weisheit gilt immer und überall. Im Laufe der Jahrhunderte gab es viele Beispiele dafür, Ludwig van Beethoven etwa oder Vincent van Gogh, Sergej Prokofjew, Dmitri Schostakowitsch, James Baldwin und Jamaica Kincaid. Die beste Kunst erwächst aus Leid – in den unterschiedlichsten Kontexten und auf allen Kontinenten.
Angesichts des aktuellen Trends, Kunstwerke nur deshalb abzulehnen, weil sie von Russen geschaffen wurden, ist es mutig, dass die Salzburger Festspiele nicht nur eine, sondern gleich zwei Dostojewski-Opern im Programm haben, deren Protagonisten geschundene Menschen sind: Der Idiot und Der Spieler. Das diesjährige Opernprogramm stellt eine Zeile aus Der Idiot besonders heraus: „Mitleid ist das einzige Daseinsgesetz der Menschheit.“ Im selben Roman Dostojewskis findet sich der ebenso treffende wie idealistische Satz: „Die Welt wird durch Schönheit gerettet werden.“
Kunst ist voller Hoffnung. Sie ist sogar optimistisch. Kunst rettet die Welt jeden Tag, in jedem Jahrhundert und in jeder Generation. Kunst ist das, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind. Obwohl es bereits im Alten Testament heißt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, mühen wir uns hoffnungslos ab, die frustrierendste und zugleich lebensbejahendste Eigenschaft von Kreativität zu überwinden: ihre Unvollkommenheit. Solange Menschen leben, werden sie weiter nach dem unübertroffenen Meisterwerk streben, in dem sich der unbeugsame, schöpferische menschliche Geist offenbart und das somit das Überleben der Menschheit sichert.
Nehmen wir etwa Vladimir Nabokov, einen russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der zum amerikanischen Klassiker wurde. Er deutete sämtliche tragischen Werke der russischen Literatur – unter anderem von Anton Tschechow, Tolstoi und Dostojewski – in einer fröhlicheren Tonart neu. Alle russischen Erzählungen handeln von ungerechten Gesellschaften, in denen sich die Menschen auf den Tod vorbereiten. Nabokov befreite die klassischen russischen Figuren und gab ihnen ein neues Leben, in dem Leiden nicht mehr die Norm war. Man denke nur an den berühmten Anfang von Tolstois Anna Karenina (1877): „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ In Ada (1969) verkehrt Nabokov diesen Satz ins Gegenteil: „Alle glücklichen Familien sind sich mehr oder weniger unähnlich; alle unglücklichen sind sich mehr oder weniger ähnlich.“ Die iranische Literaturdozentin Azar Nafisi veröffentlichte 2003, als sie nach Amerika zog, das autobiografische Buch Reading Lolita in Tehran (Lolita lesen in Teheran). Darin beschrieb sie in Anspielung an Nabokovs berühmtesten Roman jene Lektionen in Freiheit, die man nur aus der Kunst lernen kann.
Diese russischen Beispiele sind lehrreich aufgrund der geopolitischen Schizophrenie des Landes – es ist europäisch und nichteuropäisch zugleich. Seine zaristische, diktatorische, undurchschaubare byzantinische politische Struktur ist veraltet und verknöchert. Kulturell ist Russland jedoch größtenteils ein Nachfahre westeuropäischer Vorbilder, multipliziert mit Geist, Leid und Format.
Puschkin verschmolz in seinem Werk russische Themen mit Stilelementen der französischen Literatur. Nikolai Gogol, ein russischer Schriftsteller ukrainischer Herkunft, verfasste satirische Meisterwerke wie den 1840 erschienenen Roman Die toten Seelen und die Petersburger Novellen, die eine hervorragende Überführung der Erzählungen deutscher Romantiker wie E.T.A. Hoffmann in russische Lande darstellen. Tolstois Krieg und Frieden (1869) wurde zur Hälfte auf Französisch geschrieben. Diese Werke bieten tiefe Einblicke in das menschliche Dasein an sich – nicht nur in das russische.
Kunst ist rebellisch. Kunst kann Tyrannei und Krieg nicht verhindern, entlarvt sie aber immer wieder aufs Neue. Selbst wenn die meisten Menschen in Russland glauben, nichts gegen den Despotismus ausrichten zu können, ist die russische Kunst niemals neutral. Sie kämpft, und zwar immer, für eine bessere Gesellschaft, eine bessere Menschheit und mehr Schönheit.
Hätten die Machthaber im Kreml die Lektionen beachtet, die sie die Kunst über vergangene tyrannische Regime gelehrt hat, dann hätte es in Russland nicht so viele Diktaturen gegeben. Aber Herrscher sind schlechte Schüler. Sie wissen Kultur nicht zu schätzen – sonst hätten Stalin und Putin keine Meisterwerke vernichtet und nicht Künstlerinnen und Künstler inhaftiert. Ich habe davon gesprochen, dass die Ukraine die russische Kunst ablehnt, aber der Kreml befindet sich in einem noch unerbittlicheren Krieg mit den Kulturschaffenden des Landes, weil sie die kriegerische Politik Putins nicht unterstützen. Despoten lieben nur kulturka, eine Schrumpfform von Kultur, die ihre eigene Größe widerspiegelt. Die beste russische Kunst ist die Antithese zu kulturka. Sie ist mit universellen Erfahrungen von Ungerechtigkeit verbunden und beweist, dass Unterdrückung und Konfrontation ausnahmslos scheitern.
In den 1930er-Jahren brachte Anna Achmatowa mit ihrem prophetischen Gedicht Requiem Stalin in Rage. Es handelte davon, wie entschlossen sie und ihre Zeitgenossen waren, die Herrschaft des Diktators zu überdauern. Einige Jahrzehnte später spielte Solschenizyns Der Archipel Gulag (1973) eine größere Rolle beim Zusammenbruch des Kommunismus als die meisten Politiker der späten Sowjetära.
Im 21. Jahrhundert führen russische Künstlerinnen und Künstler die Tradition, totalitäre Grausamkeiten zu verurteilen, fort. In ihrem 2001 erschienenen Roman Reise in den siebenten Himmel untersucht Ljudmila Ulitzkaja die brutalen Auswirkungen des Stalinismus auf Frauen und auf das Familienleben. In jüngerer Zeit beschrieb die in Weißrussland geborene und mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Autorin Swetlana Alexijewitsch in ihrem aus Interviews entstandenen Band Secondhand-Zeit (2013) die nicht verheilenden Narben, die der Autoritarismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er-Jahren bei den „einfachen“ Russen hinterlassen hat.
Blickt man heute auf den Kreml, fragt man sich: Wie konnten sie nicht wissen, wie diese Geschichte ausgeht? Kunst weist uns in ihrer Transzendenz den Weg.
Übersetzung Sylvia Zirden