Ein starker Sog Richtung Paradies
FESTSPIELE / VOX LUMINIS
22/07/24 Passt gut, dass das Ensemble Vox Luminis für seinem Auftritt am Sonntag (21.7.) zur Mittagsstunde zu seinem Namen die Buchstaben XL beifügte. Damit assoziiert man ja auch X-Large. Ja, Renaissance-Vokalklänge schier in Übergröße waren das fürwahr!
Von Reinhard Kriechbaum
XL meinte natürlich etwas anderes, nämlich die römische Zahl vierzig. So viele Stimmen hat die Motette Spem in alium, von Thomas Tallis, ein in Salzburg vielen Musikfreunden bestvertrautes Stück. Der Salzburger Bachchor hat es einige Jahre lang in der Stiftskirche St. Peter regelmäßig hören lassen. Spem in alium war auch das Motto dieses Vormittagskonzerts der Ouverture spirituelle in der Kollegienkirche, mit einem historischen.Programm-Hintergedanken: Ist Tallis' 1571 uraufgeführtes Werk ob seiner Stimmenzahl wirklich ein so singuläres Stück, wie ihm nachgesagt wird? Ist es nicht. Unmittelbares Vorbild war die Motette Ecce beatam lucem des eine Generation jüngeren Italieners Alessandro Striggio, des im 16. Jahrhundert bestbezahlten Musikers am Florentiner Hof der Medici.
Auch dieses Stück hat vierzig Stimmen. Weil solches damals nur von ganz wenigen besonders gut bestallten Ensembles umzusetzen war, ging Striggio damit auf Reisen. Unter anderem nach Wien (wo er den Kaiser leider verfehlte), und eben auch nach London, wo er seinem Kollegen Thomas Tallis begegnete. So kam dieser wohl auf die Idee mit den vierzig Stimmen...
Für genaue Rechner und noch genauere Zuhörer: Striggio stellt in Ecce beatam lucem zehn vierstimmige Chorgruppen gegeneinander, Tallis sieht für Spem in alium acht fünfstimmige Gruppen vor. Macht beides vierzig, und das Ziel ist das gleiche – Dolby surround sagt man heute dazu. Vox Luminis, diese famose Gruppe hat für beide Stücke je zwei unterschiedliche Aufstellungen gewählt, um den Hörern das Plastische vorzuführen. Für Spem in alium stellten sich die vierzig Sängerinnen und Sänger einmal auf dem Podest in einem großen Kreis auf, das zweite Mal im Vierungsraum rund um die Zuhörer. Bei Ecce beatam lucem waren erst die Hörer in den hinteren Sitzreihen begünstig (da wählte man eine U-förmige Aufstellung), dann jene vorne. Wann kann man die tönende Architektur so mitverfolgen? Das sind Festspiele!
Ein Festspiel sichert sowieso Vox Luminis, dieses seit zwanzig Jahren bestehende und eben so lange hochgepriesene französische Vokalenemble, das diese Musik verinnerlicht hat. Da ist jede Phrase, jeder melodische Bogen so selbstverständlich organisch im Fluss und zwingend mit den anderen Melodiefäden verknüpft oder verwoben, dass der Leiter Lionel Meunier eigentlich nur den Takt anzuzeigen und nur gelegentlich Einsätze zu geben braucht. Für zwei fünfstimmige Lamentationes Ieremiae von Tallis und die ausufernde sechsstimmige Motette Media vita in morte sumus von John Sheppard hat sich Meunier, der selbst Bass singt, sogar in die zweite Reihe zurückziehen können: Läuft alles quasi wie von selbst.
Ergebnis dieser geistlichen Renaissance-„Selbstläufer“ ist, sagen wir's ruhig schmalzig, ein mitreißender Sog himmelwärts, in dem die eine oder andere Textpassage kurze Halte- und Orientierungspunkte gewährt. „Recta in paradisum“ heißt es bei Alessandro Striggio, geradewegs ins Paradies. Ein Ziel, dem man sich zur Mittagsstunde so nahe fühlen durfte wie selten.
Bilder: SF / Marco Borrelli