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Traurigkeit ist ein Arschloch

FESTSPIELE / DIE WUT, DIE BLEIBT

19/08/23 Ein paar Salzkörner waren es, die das Fass haben zum Überlaufen gebracht. Die Kleinen quengeln, die pubertäre Vierzehnjährige ist aufsässig. „Haben wir kein Salz?“, hat Ehemann Johannes bei Tisch fast nebenher gefragt. Seine Frau Helene ist daraufhin aufgestanden, hat ein paar Schritte auf den Balkon gemacht und sich in die Tiefe gestürzt.

Von Reinhard Kriechbaum

Jorinde Dröse hat den Bestseller Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl auf die Bühne des Landestheaters gebracht. Bilanz des Abends: Selten so geschämt, ein Mann zu sein. Und überhaupt noch nie erlebt nach einer Schauspielpremiere bei den Festspielen, dass ein paar hundert Frauen – und nicht wenige Männer – unmittelbar nach dem letzten gesprochenen Satz aufspringen und ihre Begeisterung mit solcher Vehemenz Luft machen.

Der Selbstmord der Mutter war, wie die älteste Tochter später sagen wird, „dieser Scheiß mit der Belastbarkeit“. Nun ist also die große Aufarbeitung angesagt, und die Betonung liegt auf „arbeiten“. Der Mann könnte den Betrieb (drei Kinder) daheim nicht annähernd schupfen. Aber da ist ja Helenes Freundin Sarah. Eine gute Seele, geradezu die Allegorie der Hilfsbereitschaft. Bald steht sie mit Handmixer und Schüssel da. Beim Teigrühren für einen Kuchen bleibt es nicht. „Ich bin immer da, wenn Du mich brauchst“, sagt sie zu Johannes und mutiert flugs zur wohlgefällig akzeptierten Ersatz-Hausfrau und (leider) wenig geliebten Ersatz-Mutter. In kürzester Zeit verstrickt sie sich in all jenen alltäglichen Anforderungen, aus denen Helene keinen anderen Ausweg mehr als den Suizid gesehen hat. Bald geht der verwitwete Familienvater wie selbstverständlich davon aus, dass einfach jemand da ist.

Die Salzburger Autorin Mareike Fallwickl ist in der Hauptsache Wochen-Kolumnenschreiberin. Die Erwartungen ihrer mehrheitlich weiblichen Lese-Zielgruppe erfüllt sie geschmeidig, indem Grundanliegen des Feminismus sehr geradlinig geerdet werden. Dieses Erfolgsrezept eignet auch ihrem im Vorjahr erschienenen Roman Die Wut, die bleibt und hat ihn zum Bestseller gemacht.

Im Buch und jetzt eben auch in der pfiffig gemachten Bühnenversion muss man nicht suchen nach Identifikationsfiguren. Sie springen einen an (auch als Mann). Mareike Fallwickl hat keine Angst vor Klischeebildern, eben weil viele dieser Vorstellungen ja unmittelbar weibliche Lebensrealität abbilden. Dramaturgisch nicht ungeschickt werden scheinbare Unveränderlichkeiten, aber auch Exit-Strategien aufgedröselt. Und das nicht verbiestert, sondern immer ein bisserl auch mit Augenzwinkern. Mit Schmäh, wie man auf gut Österreichisch sagt. Man kann auch hell auflachen, so traurig der Plot ist. Und todtraurig braucht man ja schon deshalb nicht sein, weil die Selbstmörderin Helene als Untote immer da ist auf der Bühne – als posthume Fragestellerin, Ansprechpartnerin, Ideenbringerin, Herausforderin und Kämpferin, als Frauen-Verbünderin schließlich. Eine vielfältige Rolle für Johanna Bantzer.

Die pflichtbewusste und sich aufopfernde Sarah (Anja Herden) lässt sich also viel zu weit hineinziehen in die urplötzlich mutterlos gewordene Familie. Ihr Verhältnis zum Lebensabschnittspartner wird quasi nebenher sondiert und gelöst. Er fliegt raus, bevor er noch zum Macho wird. Nicht unraffiniert, dass Johannes, der Familienvater, als Reibepunkt weitgehend ausgespart wird. Max Landgrebe spielt diese Figur, quasi Alltags-Patriarch aus Gewohnheit und zwangsläufiger Zuschreibung, entsprechend zurückhaltend. So kann sich das männliche Publikum zwanglos mit ihm arrangieren.

Die eigentliche Hauptfigur ist Lola, die älteste Tochter (Nellie Fischer-Benson). Seelisch hin und her gerissen zwischen Trauerarbeit und pubertärer Selbstfindung, ist sie dauer-aufsässig. Und sie ist jene, die sich vehement und argumentationsstark zur Wehr setzen wird gegen Rollenzuschreibungen. Sie und ihre Schwester werden Lektionen lernen und erteilen. Eine von Lola angeführte Mädchen-Gang zieht sich Wollmützen mit Augenschlitzen über und macht sich dran, Männer zu verprügeln, von denen die jungen Damen glauben, dass sie's verdienen. „Nichts als verspätete Notwehr“, rechtfertigt Lola ihr Tun. Motto: Schlag selbst zu, sonst tut's keiner. Sarah bekommt schließlich auch Schützenhilfe von der Girl-Gang, und so hat die Frauensolidarität à la Fallwickl zuletzt sogar etwas Generationenübergreifendes.

Ja, das alles ist fast unverschämt geradlinige Rattenfängerei in Sachen amgewandtem Feminismus, im Roman so wie in Jorinde Dröses cartoonhaft klar gezeichneter, auf prägnante Wirkung hin getrimmter Inszenierung. Da wird schon mal auf die Klischees der Romanvorlage eins draufgesetzt, aber das ist wohl nötig, weil sich diese Figuren ja immer wieder in Selbstreflexion, also in Monologen ergehen. Was in dieser temperamentvollen Bühnenfassung jedenfalls garantiert ist: Man hört nicht ein Mal das Papier von Romanseiten rascheln.

Das Bühnenbild: Katja Heß hat den Wohnraum, der einmal Helenes, dann wieder Sarahs Wohnung darstellt, als schmucklosen Guckkasten auf Stelzen gestellt. Oben – noch oben, wohlgemerkt – ist also die patriarchal organisierte Familienwelt, aber zu ebener Erde rührt sich was! Das Erwachen der Girls, ihr so positiv wachsendes Selbstgefühl wird optisch auch in Musiknummern dargestellt (Suzan Demircan hat choreographiert).

Nachdem sie's dann doch etwas zu bunt getrieben haben mit der Männer-Verprügelei, beschließen die jungen Frauen mal einen Ortswechsel. „Wo fahren wir hin?“ Egal, ,,Frauen wie wir werden überall gebraucht.“ Wunderte sich da noch jemand über den nachgerade enthusiastischen Widerhall aus dem mit deutlich weiblichem Überhang besetzten Zuschauerraum?

Aufführungen bis 29. August im Salzburger Landestheater – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Kerstin Schomburg

 

 

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