Stirb zur rechten Zeit!
FESTSPIELE / LIEBE (AMOUR)
03/08/23 „Die linke Hand auf die Schulter … und auf Drei stehen wir auf ...“ Nach Annes Schlaganfall lernt Georges die nötigen Hilfestellungen für seine halbseitig gelähmte Frau.Wie sie einander in dieser Szene ansehen – das spiegelt wirkliche Liebe, echte Anteilnahme, Entschlossenheit zum Beistand.
Von Reinhard Kriechbaum
Georges ist entschlossen – wild entschlossen – die neue Lage zu meistern. Betonung auf dem Wort „wild“. Der Grat zwischen liebevoller Zuwendung, Verantwortung für die Partnerin auf der einen Seite und die psychischen Komponenten Selbstbestätigung und Versagensangst auf der anderen ist schmal. Und wir haben ja – auf der Bühne des Landestheaters genau so wie seinerzeit im Film von Michael Haneke – schon am Anfang gesehen, wie er seine Frau mit dem Polster erstickt hat. Ein Mord aus Liebe, aus Verzweiflung? Eine Tat aus Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit? Ein Gnadenakt gar?
Georges ist in der Festspielproduktion Liebe (Amour) André Jung, der es jederzeit mit dem Film-Original Jean-Louis Trintingnant aufnehmen kann. Immer wird er aufrecht dastehen, sich seiner sogar noch in der Körperhaltung vergewissernd, dass da alles seine Ordnung hat und auf immer haben wird. Dass er für die sieche Anne, für seine geliebte Frau, im Wortsinn gerade stehen wird. Dass die Liebe sie beide über alle Katastrophen des Alltags hinwegtragen wird.
André Jungs Hände und Arme freilich sprechen eine andere Sprache. Hilf- und Ratlosigkeit ohne Händeringen, aber greifbar in jedem Moment. Und der Gesichtsausdruck. Diesem brillant zurückhaltenden Darsteller gelingt es, auch in der Mimik zu vermitteln, dass Georges nicht wahrhaben will, was er im Grunde genau weiß: Dass er nicht annähernd in der Lage sein wird, den Anforderungen der Pflege und letztlich Sterbebegleitung zu genügen.
2012 war es, da hat Michael Haneke mit seinem brillanten Film-Psychogramm Amour nicht nur in Cannes Furore gemacht. Selbstverständlich war damals die Problematik nicht weniger drängend als heutzutage. Die Entwicklung der auf dem Kopf stehenden Alterspyramide war bekannt und geläufig. Aber das Thema war noch beileibe nicht so allgegenwärtig in den Medien wie heutzutage. Haneke hat vor elf Jahren das Thema Pflege-Überforderung nicht als erster, aber in seinem eindrücklichen, weltweit wahrgenommenen Film eben mit enormer Breitenwirkung aufgearbeitet.
Wenn die Festspiele jetzt also die Regisseurin Karin Henkel und den Dramaturgen Tobias Schuster mit einer Bühnenversion des Films beauftragten, muss man schon eine Grundsatzfrage stellen: Wie spät darf man dran sein mit einem solchen Bühnenunternehmen? All das, was man hier sieht, findet man in den Schlagzeilen der Tageszeitungen so oft wie in der Ratgeber-Literatur. Bei allem Respekt vor der drängenden Problematik: Da muss eine Bühnenproduktion schon entschiedenen Mehrwert anhäufen, um die Theater-Übertragung zu rechtfertigen.
Karin Henkel und ihr Dramaturg haben das Mögliche getan. Was im Film die Kamera leistet, nämlich schonungslose Nähe und Unentrinnbarkeit zu schaffen, muss auf dem Theater mit Kunstgriffen erzielt werden. Multiplikation ist hier das Mittel der Wahl. Georges hat es nicht nur mit einer Anne zu tun. Katharina Bach switcht zwischen der Rolle der Anne und ihrer Tochter, und auch andere im Ensemble werden immer wieder zu Anne. Joel Small ist körpersprachlich eine fast gespenstische Doppelgängerin der Anne. So werden Georges' Überforderung und die Aussichtslosigkeit unmittelbar gespiegelt.
Auch die Bühne dient dazu, das Krasse noch zu überhöhen. Der klinisch „cleane“ Tunnelraum mag für ein Eingeschlossen-Sein stehen. Aber wenn sich diese Wände auflösen, dann ist die Größe der Bühne noch viel bedrohlicher. Dazu kommen allerlei symbolische Dinge – die Taube etwa – und an die Wände gemalte Wörter. Alles dient dazu, den starken Film-Bildern, die wohl ein Gutteil des Publikums im Kopf hat, starke Kontraste, Überhöhungen, optische Metaphern entgegen zu stellen.
Unbedingt auf der Habenseite zu verbuchen: Die Aufführung gleitet nie ins Rührselige ab. Der analytisch-sachliche Blick herrscht vor. Zwei Figuren (Christian Löber, Joyce Sanhá) bringen die Geschichte als Erzähler weiter und schlüpfen auch in die Rollen der Besserwisser. Vor allem Löber kann sich als rechtes Ekel gerieren, nicht nur wenn er die Vorzüge des Pflegebetts schildert. Und ein eigenes Thema ist der (Laien-)Chor. Diese bedauernswerten alten Menschen werden nicht „vorgeführt“, sondern ernst- und sachlich wahrgenommen. Das ist verantwortungsvolles integratives Theater. Es geht unter die Haut, wenn dieser Chor mahnend skandiert: „Stirb zur rechten Zeit!“
Wie nahe bleibt Karin Henkel am Film? Da hat sie sich eine eigenwillige Lösung einfallen lassen. Fähnchen werden gehoben, wenn man vom Drehbuch abweicht, und das wird dem Publikum gleich eingangs erklärt, denn „wir wollen nichts verheimlichen, alles aufdecken“. Ganz konsequent wird das dann freilich nicht durchgehalten.
All dem kann man sich nur schwer entziehen. Und es gilt für die Theateraufführung dasselbe wie für den Film: Betroffenheit stellt sich allein schon deshalb ein, weil ja doch ein jeder und eine jede im Publikum ähnlich gelagerte Fälle kennt oder gar im familiären Umfeld miterleben hat müssen. Aber man geht dann doch hinaus mit dem Hintergedanken: War es wirklich eine gute Idee, einen wirklich famosen Film downzugraden zu einer (immerhin) respektablen Bühnenaufführung? So etwas wie eine Lehre hat man nicht mitgenommen. Das Thema ist schließlich medial hinreichend „durchdekliniert“.