Das Survival der böhmischen Polka
FESTSPIELE / BARENBOIM
11/08/22 Die Sache hat etwas Pikantes: Das West-Eastern Divan Orchestra vereint Musiker aus Israel und den Gebieten der Palästinenser, mit dem erklärten Ziel, gegen Nationalismen anzukämpfen. Und dann spielt dieses Orchester ausgerechnet Smetanas Zyklus Má vlast (Mein Vaterland) – zur Entstehungszeit eine musikalische Kampfansage für tschechische Selbstbehauptung gegenüber der Habsburgermonarchie.
Von Reinhard Kriechbaum
Zwei Mal ist das West-Eastern Divan Orchestra unter seinem jetzt achtzigjährigen Gründer Daniel Barenboim in Salzburg, und wie in sämtlichen Orchesterkonzerten in dieser Woche ist Nationalmusik in unterschiedlichsten Facetten das Thema. Im Gegensatz zu heute Donnerstag (11.8.) Abend, wenn es um den spanischen Odeur vorwiegend aus französischem Blickwinkel geht, stehen Smetanas Blut- und Boden-Tondichtungen unmittelbar für ein klares politisches Statement. Der Zyklus Ma vlast wurde auch immer so verstanden – und das dürfte auch der Grund dafür sein, dass in österreichischen Konzertsälen nur die als Naturschilderungen vergleichsweise unverdächtigen Teile Die Moldau und Aus Böhmens Hain und Flur heimisch geworden sind. Erstere hat's, weil's gar so lieblich plätschert, gar zur Wunschkonzert-Nummer und im Schulunterricht zum Paradebeispiel für Programmusik gebracht. Das hat sich der gute alte Bedřich Smetana, der als Vorname Friedrich im Taufschein stehen hatte, so eher nicht vorgestellt. Der deuschstämmige Prager hat sich erst im Erwachsenenalter zum Vorzeige-Tschechen entwickelt. Auch so ein Treppenwitz der Geschichte.
Ob Barenboim an der Spitze seines Orchesters derzeit den Taktstock heben würde für Taras Bulba oder anderen Musiken von dem Ukrainer Mykola Lysenko? Leider im Wortsinn vermintes Gebiet. Aber der tschechische Nationalismus ist derzeit halt kein brennendes Thema. Und wem zum ersten Stück von Smetanas Heimatland-Zyklus die Visegrad-Staaten einfallen, deren nationalistische Eigenbrötlerei der EU immer wieder Kopfzerbrechen macht, dem sei gleich entgegengehalten: Es gibt mehrere Visegrads (in unterschiedlicher Schreibweise) auf der europäischen Landkarte. Jenes, wo 1991 der politische Vertrag zwischen Polen, Ungarn und der damaligen gerade-noch Tschechoslowakei unterzeichnet wurde, liegt am ungarischen Donauknie. Die Burg Vyšegrad, auf der Smetana harfenselig die Barden von besseren, mittelalterlichen Zeiten singen lässt, liegt im Stadtgebiet von Prag. Ein Point of view, wie man so schön sagt.
Das eingängige Eröffnungsstück Vyšegrad taugte übrigens genau so zur Wunschkonzert-Nummer, so wie Šárka, in dem aus einer Liebesszene ein wüstes, aber nicht politisches Gemetzel wird. Das Mädchen Šárka hat ein ganz privates privates Problem mit Männern. Diejenigen, die diese Jung-Amazone zur Räson bringen sollten, ziehen den Kürzeren.
Musikalisch wird’s eigentlich erst ab der Nummer vier wirklich interessant. Aus Böhmens Hain und Flur steht Franz Liszt, Smetanas Vorbild in Sachen symphonischer Dichtung, sehr nahe. Sogar Berlioz könnte einem bei manch schrofferem Übergang einfallen. So zerklüftet ist Böhmen gar nicht, im Riesengebirge nicht und im Böhmerwald schon gar nicht. Das von Barenboim „misterioso“ umgesetzte Streicher-Fugato blieb besonders im Gedächtnis.
An die Wurzeln des böhmischen Nationalstolzes greifen die letzten beiden, auch von der Dauer her längsten Stücke Tábor und Blaník. Im Ort Tabór ging's während der Hussitenkriege turbulent zu, und Smetanas Schilderung hat so viele Schlussakkorde, dass man mit Händen greifen kann, welche Ratlosigkeit die Niederlage – ein Trauma wie die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld für die Südslawen – bei den armen Tschechen hinterlassen hat. Jedenfalls hat Barenboim nichts unternommen, um die endlosen Orchester-Schläge dramaturgisch anders zu erklären.
Aber keine Sorge, die frustrierten Kämpfer haben sich als Untote in den Berg Blaník zurückgezogen. Dort lauern sie „in tiefem Schlaf des Augenblicks, da von der bedrohten Heimat an sie der Ruf ergehen wird, zu deren Verteidigung wieder zu den Waffen zu greifen“, so der Komponist. Das 20. Jahrhundert haben sie gottlob dort drinnen verschlafen, und so können sich heutige Zuhörer über allerlei folkloristisches Musikantentum freuen, gut heraushörbar auch im sich mächtig aufbauschenden Orchester. Das Survival der böhmischen Polka haben Barenboim und das Divan Orchester fein hingekriegt. Aber es hat dann etliche Verneigungsrunden gebraucht, bis sich das Publikum endlich zu standing ovations bequemte.