Katastrophe und Erlösung
WIENER PHILHARMONIKER / THIELEMANN
29/07/22 Christian Thielemann lässt seine Orchestermitstreiter nicht einmal im „Ernstfall“ brutale Gewalt anwenden. Auch im mehrfachen Fortissimo betören seine Interpretationen mit durchhörbarer Delikatesse. Überwältigend war das Energieniveau und das Wechselbad der Gefühle mit der Neunten Bruckner.
Von Heidemarie Klabacher
Überwältigendes Aufbegehren. Subtiles sich Bescheiden. Blech im vielfachen Forte und Blech im feinsten Piano... Es war das erste Konzert der Wiener Philharmoniker bei den diesjährigen Festspielen und ein erstes Highlight. Neunte Bruckner. Vom ersten klingenden „Nichts“, vom ersten noch vergleichsweise verhaltenen Crescendo, von den ersten pochenden bohrenden Rhythmen an: Christian Thielemann und die „Wiener“ rissen ihr Publikum mit einem kontrolliert entwickelten Sog, der sich wieder und wieder be- und entschleunigte zwischen Plätschern und Malstrom. Hat der erste Satz die Erde beben lassen, war das Scherzo ein ausgewachsener Meteorsturm. Wie eine Katastrophe aus dem Nichts heraus läßt Thielemann Bruckners dramatische Ereignisfolgen in d-Moll immer und immer wieder scheinbar harmlos anfangen, Fahrt aufnehmen. Lässt gegen das widerspenstige vernichtungsresistente Motiv mit immer neuen Kräften anrennen, schließlich zerschmettern: Ein direkter Angriff auf alles, was da lebt.
Dass Thielemann von seinen Orchester-Mitstreitern auch im „Ernstfall“ nicht brutale Gewalt anwenden lässt, sondern sich selbst im mehrfachen Fortissimo erstaunlich durchhörbarer Delikatesse befleißigt, ist eines seiner Markenzeichen. So war denn auch genug Luft nach oben, um im Adagio, schwer vorstellbar woher die Energiereseveren kamen, noch mehrere Schäuflein nachzulegen. Die Spannungsschraube noch einmal anzuziehen.
Neue Zerrissenheit. Backlash in die Zerstörung. Ursumpf der Verzweiflung. Und dann jenes „fromme“ singend aufsteigende Gebet – das klingt unter Thielemann wie „Bruckners Gralsmotiv“. Und das finale, nun wirklich überraschd, noch einmal gesteigerte Fortissimo wich verklärter Todes-Nacht – und einem erneutem Tumult. Denn auch die Zustimmung des Publikums hatte mehrfaches Forte. Erstes Highlight der Wiener Gastspiele in Salzburg. Wird nicht leicht zu toppen.
Zuvor wurde übrigens der steinige Weg vom Dunkel zum Licht im Miniaturformat quasi probeweise durchgespielt – mit Elīna Garanča und der Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53 von Johannes Brahms. La Garanča sang, wenig wortdeutlich aber profund im Klang, die Worte des Dichterfürsten Goethe. Die Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, einstudiert von Jörn Hinnerk Andresen, kommentierten elegant und geschmeidig mit homogenem Chorklang.
Das Konzert am 30. Juli wird live um 11 Uhr auf myfidelio.at ausgestrahlt und am 29.10. um 20.15 Uhr auf 3sat
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli (1); Christoph Köstlin (1)
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