Eine Welt in jeder Fuge
FESTSPIELE / TRIFONOV
24/08/21 Daniil Trifonov spielt Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge und lässt, statt kontrapunktische Strenge zu exekutieren, da eine verträumte Sarabande vorüberziehen, dort übermütige Tänzer eine Gigue in den den Boden stampfen. Ein zartes Thema, vor irgendwoher aus dem Äther wehend, durchläuft erstaunlich moderne chromatische Wandlungen, schwebt wieder davon...
Von Heidemarie Klabacher
Delikater, angriffiger und facettenreicher in der Klanggebung hat man die 15 Nummern noch nie gehört. Ob es der alte Bach so verstanden haben wollte oder nicht, sollte die Musikwissenschaft inzwischen herausgefunden haben: Jedenfalls ist in der Lesart von Daniil Trifonov nichts zu spüren von „Lehrwerk“ oder „Musiktheoretischer Beispielsammlung“. Trifonov entfaltet Kunst der Fuge BWV 1080 nicht weniger klangsinnlich und klangrednerisch als etwa Chopin oder Schostakowitsch Preludes.
Die erste „Melodie“ beginnt. Die dritte hat sich alsbald aus der zweiten heraus entwickelt – und mit Eintritt der vierten ist ein Kosmos aufgespannt. Das dauert bei Bach/Trifonov jeweils nur ein paar Takte und ist immer erst der Anfang des jeweiligen Contrapunctus. Das Wunder der musikalischen Weltschöpfung (sorry, ein wenig Pathos muss nach diesem Abend sein) aus diesem simplen Material wiederholt sich 13 mal. Beim 14. Mal erscheint das b a c h-Thema. Das verbindet man mit zyklopenhaft stampfender Bedeutsamkeit. Trifonov hat auch hier Zeit und Finger genug, in der strukturellen Strenge emotionale aufwühlende Momente – lyrisch oder dramatisch – unterzubringen.
Jeder Außerirdische, der diesen überirdischen Abend heimlich in seinem Raumschiff abgehört hat, weiß jetzt, was eine „Fuge“ ist. Auch wenn ihm das Wort fehlen mag für die komplexen Abläufe, Strukturen und unzähligen Variationen, die auf einer einfachen Folge von zwölf schlichten Tönen in d-Moll basieren.
Umrahmt haben diesen monumentalen aber gar nicht monolithischen Programm-Brocken zwei Bearbeitungen legendärer Bach-Werke für Klavier: Johannes Brahms Fassung der Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Violine solo BWV 1004 für Klavier, linke Hand. Und der Choral Jesus bleibet meine Freude BWV 147 in der Bearbeitung für Klavier von Myra Hess. Die 32 Variationen der Chaconne kamen in der Lesart von Daniil Trifonov ebenso vielfarbig daher wie die Fugen und Kanons vorher. Den Choral ließ er beinah in Demutshaltung aus dem Rankenwerk der Begleitung hervortreten und darin wieder aufgehen. Mit einigen Nummern aus dem Zweiten Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach gab Trifonov seinem Publikum das Geleit zurück in die Welt. Es gibt sie, die Konzerte, die man staunend und dankbar verlässt.