Musik ist Bewegung ist Bach
FESTSPIELE / QUEYRAS, KEERSMAEKER
21/08/21 „Jazzbühne und Tanzboden wurden bespielt“, hieß es in der DrehPunktKultur-Kritik vor drei Jahren. Damals spielte Jean-Guihen Queyras Bachs Cello-Suiten in der Kollegienkirche. Was wir 2018 noch nicht wussten: Die Sache mit Bach und konkretem Tanz war damals schon unter Dach und Fach.
Von Reinhard Kriechbaum
Mitten wir im Leben sind ist ein breit aufgespanntes Tanzprojekt des Cellisten Queyras und der belgischen Tänzerin und Choreographin Anna Teresa De Keersmaeker mit ihrem Ensemble Rosas. Von La Monnaie (Brüssel) bis zur Hamburger Elbphilharmonie, von der Ruhrtriennale bis zum Festival d'Automne à Paris ein Dutzend Coproduzenten. Die Salzburger Festspiele gehören nicht dazu, für die Reihe Zeit mit Bach hat man die Produktion, die 2018 startete und deren Kalendarium wegen Corona ordentlich durcheinander gekommen ist, eingekauft – es war am Freitag in der Szene Salzburg der erste Auftritt der Gruppe seit langem, wofür sich Anna Teresa De Keersmaeker coram publico ausdrücklich bei den Festspielen bedankte.
Die sechs Cellosuiten BWV 1007-1012 und Tanz: Das ist alles andere als eine abwegige Idee. Schließlich geht es in der barocken Suite um Tanzformen pur. Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, dazu Menuette, Gavotten und Bourées. Das alles tanzte man in höfischen Zirkeln in ganz Europa. Eine ganze Branche, die Tanzmeister, verdiente ihre Brötchen damit, dass sie den Damen und Herren der besseren Gesellschaft die Schrittfolgen einbläuten.
Anna Teresa De Keersmaeker und Rosas haben natürlich ihre eigene, starke Bewegungssprache, aber sie gehen, zum Teil sehr rigoros, von der Grundidee dieser Tänze aus. Ein Beispiel nur: In den beiden Menuett-Varianten der Suite Nr. 2 macht der Tänzer nichts, als Schritt für Schritt geradeaus zu gehen, vorwärts und rückwärts. Wie kann man doch, wenn Tänzer und Cellist alle Sinne füreinander aufwenden, daraus sichtbare Musik formen, die Beine in einer geraden Linie so voreinander setzen, dass Bachs Kompositions-Struktur unmittelbar nachfühlbar wird. Auf dieser Ebene hielt der zweistündige Tanzabend so manches musikalische und optische Wunder bereit, wobei das genaue Schauen vom konzentrierten Hören nicht zu trennen war. Konzentration auf beides wird eingefordert und bringt dem Publikum sich reich verzinsenden Gewinn.
Das Wundersame dieser tänzerischen Umsetzung: Jede Geste, jede Schrittfolge, jede Körperdrehung ist unmittelbar der Musik abgelauscht. Da eine Art „Orgelpunkt“ in der imaginären Mehrstimmigkeit auf den sechs Saiten, dort eine auffällige Tonwiederholung, dann wieder ein wirbeliges Sich-Verdichten im harmonischen Ablauf – all das wirkt unmittelbar umgesetzt.
Vier der sechs Suiten sind Solotänzern vorbehalten (drei Männer, eine Frau). Nur im jeweils zweiten Satz, der Allemande, mischt sich Anna Teresa De Keersmaeker ein, drängt quasi von außen hinein. Auch das verdeutlicht etwas Wesenhaftes zu Bach wie zur ursprünglichen Art des Tanzes: in die Allemanden hat Bach stets besondere komplexe Ideen investiert. Und all diese Tänze sind Schreittänze, bei denen sich die Tanzenden nur ausnahmsweise näher kamen als auf Fingerspitzen-Berührung. Wo dieses System von Keersmaeker unterbrochen wird, steht immer auch ein musikalischer Gedanke dahinter.
Viel Respekt einer Kunstform der anderen gegenüber: In der vierten Suite blendet sich der Cellist plötzlich aus und es passieren lange Bewegungsfolgen ohne Cello – dazu kann man sich als Zuseher die Musik im Kopf ausmalen. Und die fünfte Suite hat man ganz zurecht als so singulär eingestuft, dass die Musik ganz für sich alleine sprechen darf.
Dafür wird in der sechsten Suite gleichsam Bilanz in der Gruppe gezogen, und davon lässt sich Jean-Guihen Queyras ordentlich herausfordern. Hat deren Prélude schon mal so sehr nach Steve Reich geklungen? Es sind ja schon zuvor nicht nur die Gigue-Sätze echt groovig dahergekommen.
Was zeichnet Queyras' Bach-Spiel aus? Er bringt tonliche Elegance mit Bewegungsmotorik total schlüssig in Einklang. „Moderner“ Gestus und aufführungspraktische Informiertheit greifen plausibel ineinander. Ein historischer Blick und moderne Sichtweisen werden wie selbstverständlich kombiniert, ohne das das eine an das jeweils andere verraten würde. Da steht also starker Eigen-Sinn dahinter, und der ist vermutlich das Geheimnis, dass dieser Bach mit dem Tanz so schlüssig zusammengeht. Queyras ist mit den Augen stets bei den Tänzern und diese mit den Ohren bei ihm. Keine Atempause, die nicht von unmittelbarer lebendiger Interaktion zeugte. Mitten wir im Leben sind das Motto – es macht vergessen, dass der Satz eigentlich weiter geht mit wir vom Tod umgeben. Hier ist Leben pur.