Bettlectüre: Byron – schreckliche Nacht!
FESTSPIELE / CAMERATA / GARDINER
20/08/21 Das war starker Tobak für ein romantisches Gemüt wie Robert Schumann: Die Tagebuchaufzeichnung über eine etwas eigenartige Bettlektüre und die Folgen davon bezieht sich auf Lord Byrons Manfred. Schumann machte sich ans Komponieren und entschied sich für eine Form, die zwischen allen vertrauten Genres durchfällt.
Von Reinhard Kriechbaum
Die Musik zu Manfred, von Schumann dann als Dramatisches Gedicht bezeichnet, von Liszt 1852 am Weimarer Hoftheater sogar szenisch auf die Bühne gebracht, stand am Ende des ersten Konzerts einer zweiteiligen Romantik-Exegese von Sir John Eliot Gardiner, seinem Monteverdi Choir und der Camerata Salzburg. Ein wahrhaft exklusives und darob festspielwürdiges Projekt. Wer beschäftigt sich schon mit solchen Stücken, die heutzutage völlig aus dem als aufführungswert eingeschätzten Repertoire gedrängt ist? Den letzten größeren Ausflug in diese abwegige Schauerromantik hat Nikolaus Harnoncourt bei der Grazer Styriarte unternommen. Aber das ist gut zwei Jahrzehnte her.
Warum spielt man das nicht mehr? Es hat sehr mit dem Bildungsstand des Publikums zu tun. Der Kanon literarischer Informiertheit hat sich elementar geändert. Zuhörern der Schumann-Zeit waren literarische Figuren wie Manfred oder Mignon (mit dem Requiem für Mignon eröffnete Gardiner das Konzert am Donnerstag 19.8.) wohl vertraut. Mit Lord Byron werden Gymnasiasten im Deutsch-Unterricht seit Generationen nicht mehr belästigt, und Wilhelm Meisters Lehrjahre des guten alten Goethe sind auch eher nicht mehr so gefragt. Bei Schumann läge noch manch anderes große Werk von Texten in dieser Preisklasse brach. Harnoncourt hatte sich seinerzeit Das Paradies und die Peri vorgeknöpft. Deren Story schlägt noch den Manfred...
Manfred hat die Liebe auf inzestuöse Abwege geführt. Er trieb's mit der Halbschwester und dann mit Schwester. Reue tut Not, Geister werden von ihm angerufen und kommen auch, Schwester Astarte erscheint als Trugbild. Den potentiellen Selbstmörder knöpft sich zuletzt ein alter Abt vor, aber Manfred pfeift auf die kirchliche Erlösungsoption. Tolle Szene übrigens, wie der Chor nach Manfreds trotziger Ansage – „So schwer ist's nicht, zu sterben, alter Mann!“ – wie mit einem Schrei einfällt und „Et lux perpetua“ singt. So leicht gibt sich die Kirche offenbar nicht geschlagen, auch wenn die Seele dieses romantischen Trotzkopfs wohl verloren ist.
In dieser Musik fliegen also die Geisterscharen herum, mal volatil, dann wieder als stampfend-bedrohliches Heer. Manfred findet kurz bem „Gemsenjäger“ Unterschlupf, und da geht’s pastoral zu mit Englischhorn, Oboe und Viehglocke. Einige Abschnitte sind als Melodrame gefasst, manche Szene wirkt wie ein Opernrezitativ ohne Gesang.
Jens Harzer war der eindrückliche Sprecher des in Dialogform aufbereiteten Textes. „Das leerste Wort, das je aus Schulgewäsch das Ohr bethörte“ heißt es in der Byron-Übersetzung von einem gewissen Herrn Karl Adolf Suckow (1802-1847), und dem ist ja eigentlich wenig hinzuzufügen. Harzers expresssive Textgestaltung, durchaus nah am Karikieren gelegentlich, ist vermutlich die einzig lautere Art, dieser Dichtung beizukommen. Aber: Die Musik ist anschaulich, packend, und ein geübter Klangredner wie John Eliot Gardiner kann da viel herauskitzeln.
Man durfte staunen: All die solistischen Geister aus den Reihen des Monteverdi Choir haben ihre Parts auswendig gelernt. Muss eigenartig sein, wenn Engländer ihre Byron auf Deutsch studieren – aber sie haben das mit tollem Sprachbewusstsein gemacht, wie der Chor überhaupt. Die Camerata Salzburg, in gebotener symphonischer Stärke, fand auch nicht wenig Gelegenheit zum Profilieren. Starke Romantik, aber freilich völlig aus unserer Zeit und unserem Verständnishorizont gekippt.
Der Text des Requiem für Mignon ist immerhin von Goethe. Ist Mignon Weibl oder Mandl? Irgendwie LGBTQ jedenfalls und deshalb anziehend für Wilhelm Meister. Aber der kommt in dem von Schumann vertonten Abschnitt nicht vor. Da liegt Mignon auf der Bahre, und das Chor-Kollektiv will nicht wahrhaben, dass dieses androgyne Wesen nun tot ist, auch wenn die Sopran-Solistinnen, in regem Wechselgesang mit dem Chor, einen klareren Blick haben. Bevor die Trauer überhand nimmt betritt ein Bass das Podium und ruft: „Kinder, kehret ins Leben zurück!“ Das wirkt. „Gebe der Tag uns Arbeit und Lust!“ So weit Goethes Anleitung zur positiven Trauerarbeit. Auch das süffigster Schumann, in der Diktion könnte man sagen: Fortsetzung von Lied mit anderen Mitteln. Der Monteverdi Choir: ein Gedicht.
Und ein weiteres symphonisches Chorwerk ganz im Geist der Romantik: Fürs Nachtlied lieferte Friedrich Hebbel den Text. „Quellende schwellende Nacht“, Gefahr böser Träume, aber dann: „Schlaf, da nahst du dich leis', wie dem Kinde die Amme.“ Was für eine Beruhigung im Orchester-Mysterioso (wie gut konnte Schumann doch instrumentieren), verduftend die Streicher im Pizzicato und ein Ausklang mit Holzbläser-Harmonien, die wohl zum Allerschönsten gehören in der Musik der Romantik.