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Tradition, Moderne und das Eigene

FESTSPIELE / EVGENY KISSIN

15/08/20 Kissin widmete den Abend seiner Lehrerin Anna Pavlovna Kantor, die am 27. Juli 98jährig verstorben ist. Ob dieses Ereignis die Programmauswahl beeinflusst hat, ist Spekulation. Jedenfalls überraschten am Samstag (14.8.) im Großen Festspielhaus einige Stücke von Tichon N. Chrennikow.

Von Erhard Petzel

Dieser Herr Chrennikow war jahrzehntelang Generalsekretär des Komponistenverbandes der Sowjetunion. Die Herzen demokratisch gesinnter Bürger dürften ihm nicht gerade zufliegen, war er doch führend für die Gängelung sowjetischer Komponisten verantwortlich. Nicht nur in den heutig mentalen Verfassungen der diversen Communitys stellen sich da sogleich die Fragen nach Gesinnungstaten oder schamlosem Opportunismus zur Förderung der eigenen Karriere und dem Zwang durch ein Unrechtsregime.

Der Verlust durch moralische Zensur von Kunst und Künstlern kann durch Spitzenvirtuosen wie Kissin verdeutlicht werden, der sich nicht um politische Empfindlichkeiten scheren muss. Er zeigt mit einem Tanz aus Drei Stücken für Klavier op. 5 Nr. 3 und Fünf Stücke für Klavier op. 2 des jungen Chrennikow abwechslungsreiche Charakterstücke in den Traditionen der jungen Moderne, wie sie in den 1930er Jahren auch in Moskau noch möglich waren. Da hängt die russische Musikgeschichte mit dem „Mächtigen Häuflein“ ebenso dran wie die Versuche, durch das Aufgreifen aktueller Ideen dieser den Epigonenverdachtszahn zu ziehen. Wenn ein Pianist vom Format Kissins den Fokus auf Virtuosität erst gar nicht installiert, weil die nur selbstverständliches Werkzeug darstellt, werden andere Bezüge deutlich.

So kontrastieren 3 Preludes for Piano von George Gershwin einerseits den jüngeren russischen Kollegen durch den Stil, andrerseits sind Verfahren und Umgang mit der eigenen Tradition eine gemeinsame Klammer. Dem russischen Melos stehen Ragtime und Ballade gegenüber. Aber der Wille, obsessiv das zu brechen, was man unter Tradition versteht, führt zu ähnlichen Mustern bei Verfahrensweisen und Formbildung. Typisch das Spiel mit Farbtönungen in groben Strukturen mit intelligentem Feinschliff, das Insistieren auf rhetorischen Figuren und deren holzschnittartige Überhöhung im Kontrast zu zarten Lyrismen. Jedenfalls ist die Lust geweckt, wieder mehr von Leuten wie Bartók, Kabalewski oder Katchaturian zu hören.

In den Reigen des 1. Teils passt sich zu Beginn auch nahtlos Bergs Sonate für Klavier op. 1, obwohl im Gestus einer ganz anderen Tradition verhaftet, aber obsessiv aus einer Grundstruktur herausgeschält und in redundantem Bewegungsgestus durchgeführt. Die große Überraschung ist dann im zweiten Teil mit reinem Chopin-Programm die Erkenntnis, wie sehr bei diesem unerreichten Übervater das Zwanghafte und Obsessive als grundlegendes Element seiner Musik auszumachen ist. So spannt sich ein weiterer Bogen vom Nocturne H-Dur op. 62 Nr.1 über die ersten drei Impromptus (op. 29, op. 36 und op. 51) zu einem in Wirklichkeit unerhörten Höhepunkt im Scherzo h-Moll op. 20, der mit den Gesten aus dem ersten Programmteil eigentümlich harmoniert. Zwischenapplaus für diesen Höllenritt.

Abschluss mit der Polonaise As-Dur op. 53 mit der Bezeichnung Héroïque. Jeder hat das gängige Hauptthema im Ohr. Aber der abstruse Weg dahin, die verzweifelten Pedalwaschküchen, aus der die eleganteste Innigkeit geboren wird, das meißelt Kissin mit klarer Schärfe heraus. Sein unbestechlich präzises Spiel versetzt das Auditorium ob der Ungeheuerlichkeit dieser Musik in gespannte Erstarrung, die sich in Standing Ovations entlädt.

Wie sehr Kissin mit seiner Musik eins ist, zeigen vier Draufgaben. Auf Mendelssohn folgt das Scherzo Nr. 2 von Chopin mit seinen absurden Kurzarpeggios als Motive und überbordend an Klangfarben. Dann ein eigener Tango, der Kissin in die Reihe der Komponisten stellt, die im rüden Bruch Traditionen innig umarmen. Zum lyrischen allerletzten Schluss Thad Jones entspannendes A Child is Born. Im Hörer ist ein tiefes Gefühl geboren für die unsäglichen Wunder, mit denen wir aus unserem Kulturschatz durch seine Hohepriester gespeist werden.

Übertragung am 3. September um 19.30 Uhr in Ö1
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

 

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