Kanonen auf Engel
FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / MUTI
14/08/21 Da war sogar Corona für was gut. Riccardo Muti nutzte die Zwangs-Pausen und studierte Beethovens Missa Solemnis – über die sich die der achtzigjährige Maestro bisher noch nicht drüber getraut hat. So Muti selbst im Programmheft. Seine Erkenntnisse, umgesetzt in Musik am Pult der Wiener Philharmoniker, erschließen das Monumentalwerk dem Zuhörer.
Von Heidemarie Klabacher
Auch so hat es ein Kyrie und ein Gloria lang gedauert, bist aus Titanentum Musik geworden ist. Solistenquartett und Chor hatten und machten es „schwer“ gegenüber dem von Anfang differenziert artikulierenden Orchester. Riccardo Muti schien seine sorgende Aufmerksamkeit zunächst vor allem den Wiener Philharmonikern zuzuwenden. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor meldete sich vor allem lautstark zu Wort. Das Solistenquartett ließ mit gerundeten Koloraturen im „Christe“ erstmals aufhorchen. Doch Anfangs stemmten die Männer ihre Töne nicht anders, als Solisten sonst gern die „Ode an die Freude“ stemmen. Chor und Orchester schienen verschiedenen Stimmungen nachzuhängen, das Orchester agierte bei weitem nicht so „gewaltbereit“ wie die Vokalisten. Machte der Vokalpart anfangs ratlos, betörten von Anfang an etwa die Orchesterübergänge zwischen den Gloria-Teilen. Allein die Holzbläser-Überleitung zwischen „filius patris“ und „qui tollis“ erzählten vom Unterschied zwischen Lobpreis und Flehen, in welches der Chor denn auch leise(r) einfiel, mit der Lautstärke aber auch Textverständlichkeit aufgab. Maestro Muti, ganz damit befasst, den Wiener Philharmonikern etwa eine geschmeidige „Cum Sancto Spiritu“-Fuge herauszukitzeln, ließ die Vokalisten pure Gewalt ausüben.
Mit dem „Et incarnatus es“ im Credo milderte sich die Diskrepanz zwischen der instrumentalen- und vokalen Qualität. Ab hier lockerte sich Stimmstahl zur Musik. Die Vokalisten exekutierten nicht länger einen „Instrumentalpart“, sondern hoben an zu singen. Welch grandiose Idee des Komponisten, welch punktgenaue Lesart des Dirigenten: Die Passage „judicare vivos et mortuos“ gab mit einem wilden Posaunenstoß eine dräuende Vorstellung davon, wie das ungeschriebene Requiem Beethovens geklungen haben würde. So könnte man Episode um Episode erzählen. Spannend, wie Riccardo Muti über diese unzähligen Stimmungen und Stimmungswechsel einen verbindenden Bogen zu spannen wusste.
Dann das Sanctus. Leise das Orchester, leise der Chor, in der Wiederholung das Ganze fast ein Flüstern. Die ruhevollen Linien der Solisten – endlich zu nennen Rosa Feola Sopran, Alisa Kolosova Alt, Dmitry Korchak Tenor und Ildar Abdrazakov Bass – über dem Tremolo der tiefen Streicher... All das führt hin auf das Benedictus, jenes wundersame „Violinkonzert“, dessen schlichte Melodie beinah rondo-artig in allen möglichen Lagen und Kombinationen mit den Parts von Solisten und Chor den Lobpreis zum schlichten Kranz rundet. Riccardo Muti konnte sich nicht genug beim Violin-Solisten Rainer Honeck bedanken.
Um zu schätzen was Frieden ist, schadet es nicht, ein wenig Krieg zu spielen: Das tut Beethoven im Agnus Dei. Es muss nicht referiert werden, dass Beethoven in der Missa Solemnis das übliche Schema von Mess-Vertonungen aufbricht. Er entfacht fast eine Art Pandämonium an wilden, bedrohlichen oder eben auch überirdisch friedvollen Schilderungen anhand einzelnen Textpassagen innerhalb der jeweiligen Messteile. Im Agnus Dei ist das besonders drastisch und dramatisch. Das Fuga eigentlich „Flucht“ bedeutet wird erst klar, wenn man die feindlichen Kanonen näher kommen hört.