Mehr als aufregende Seelen-Trübungen
FESTSPIELE / MUSICAETERNA
03/08/21 Die Geigenbögen im Streichercorps von musicAeterna: Das ist eigentlich pure Verschwendung von Holz und Rosshaar. Nicht nur in Mozarts „großer“ g-Moll-Symphonie KV 550 kämen die Damen und Herren, so scheint's, mit Bögen in Bleistiftlänge aus.
Von Reinhard Kriechbaum
Wenn Teodor Currentzis sein Ensemble quasi im barocken Duktus Mozart spielen, dann ist das Besondere ja rasch beschrieben: Es ist so gut wie alles anders. Vor allem die Streicherartikulation. Kaum einmal, dass mehr als zwei Noten zusammengebunden sind oder zumindest gleich breit nebeneinander stünden. Dem Kleinstgliedrigen wird konsequent gehuldigt, und man schreckt beinahe auf in den vermeintlich so vertrauten Anfangsmotiven zum Kyrie der c-Moll-Messe. Das ist am Montag (2.8.) im Großen Festspielhaus nicht in seiner Urform erklungen, sondern in der Transfiguration aus der Kantate Davide penitente KV 469. „Alzai le flebili voci al Signor“, heißt es da, die klagende Stimme erhob ich zum Herrn. Wahrhaft anschaulich die Verzagtheit.
Currentzis formte eine beinah gespenstische Szenerie. Eben, wie es im Terxt heißt, „da mali opresso“, vom Bösen erdrückt. Das macht auch noch Gänsehaut, wenn der Sopran – Nadezhda Pavlova – zu seinem Solo anhebt, zaghaft wie kaum der Worte fähig. Da braucht es eine Stimme wie eben jene der diesjährigen Donna Anna, die sich in höchster Lage ihr Volumen zurückzunehmen getraut, die Stimme im Sinne glaubwürdiger Textausdeutung wie einen dünnen Faden führt und nochmal ins extreme Pianissimo schwenkt, wo die meisten Sopran-Kolleginnen lustvoll aufdrehen.
Aus dieser Gänsehaut-Atmosphäre ging's pausenlos hinüber in die g-Moll-Symphonie, deren Hauptmotiv man in diesem Zusammenhang gar nicht mehr als molltrüb, nachgerade beinah schon wie einen Wink der Hoffnung empfunden hat. Diskussionsstoff hält Teodor Currentzis in seinen Interpretationen allemal bereit. Viele seiner Ideen sind fordernd, ja polarisierend. Er reizt die Gestik der Musik aus. Seine Ideen sind immer gut für ein Zuviel, das sich im größeren symphonischen Zusammenhang dann doch als gerade richtige, jedenfalls noch vertretbare Dosis herausstellt.
In allen Symphoniesätzen spontane Stimmungsschwankungen auch in sehr feinen Valeurs. Man wüsste gar nicht, wo anfangen mit dem Beschreiben. Der latenten Unruhe-Atmosphäre zollten die Naturhörner zwar gelegentlich Tribut, umso einprägsamer das Bläsercorps als Ganzes. Unglaubliche Extravaganzen oft. Selbst im Trioteil des Menuetts Platz für exzessive Messa di voce.
musicAeterna ist ein eigenwillig besetztes Ensemble: Erst in Novosibirsk, dann in Perm und jetzt in St. Petersburg beheimatet, hat es in der Alte-Musik-Diaspora seinen eigenen Tonfall entwickelt und bewahrt. Es finden sich in den Streichern fast ausschließlich russische Musiker, in den Bläserreihen auffallend viele deutsche. Jedenfalls ist musicAeterna immer noch ein von Currentzis handverlesen und individuell besetztes Ensemble. Es nimmt schon deshalb eine Ausnahmestellung ein, weil ja auch in der Originalklang-Szene längst Internationalisierung und Ausdrucks-Einebnung um sich gegriffen haben.
Doch weiter im Programm am Montagabend: Auch im zweiten Teil war ein kurzes gestliches Chor-Orchesterstück – die Maurerische Trauermusik c-Moll KV 477 in der hypothetischen Vokalvariante mit hebräischem (!) Text – mit einem symphonischen Werk verknüpft. In diesem Fall nicht weitere Moll-Trübungen, sondern der Weg direkt ins C-Dur-Licht der Jupiter-Symphonie. Diese hat Currentzis erstaunlich geradlinig, für seine und der musicAeterna Verhältnisse geradezu konventionell angelegt. Gestalterische Anschärfungen freilich, aber im Grunde frisch und ohne Mätzchen, wie von der Leber weg musiziert. Das ist auch legitim, war aber nach dem intensiven „Musiktheater“ in der Stunde zuvor beinah zu leichtgewichtig. Mit dem Attribut „Teilzeitexzentriker“ hat die NZZ dieser Tage Currentzis bedacht. Es war, als ob er das an diesem Abend irgendwie bestätigen wollte.
Die Zuhörer waren indes unbeirrt zu Jubel aufgelegt. Schon gar, nachdem sie noch mit einer eine Donna-Anna-Zugabe durch Nadezhda Pavlova beschenkt worden waren.