Im Sog der Traumata
FESTSPIELE / ELEKTRA
01/08/21 Krysztof Warlikowskis Wurf der Deutung einer der grauenvollsten Szenen aus den Atriden musste heuer unbedingt wiederholt werden. Überhaupt keine Frage. Und man könnte absolut nichts dran ändern und könnte auch nichts verbessern.
Von Erhard Petzel
Warlikowskis geniale Aufschlüsselung der Geschichte um den Rachemord an der eigenen Mutter für deren Anschlag auf Vater Agamemnon hat nichts von ihrer bildgewaltigen Wucht und dem geschickt erschlossenen Hintergrund eingebüßt. Keine Figur ist hier unterbelichtet, jede in ihrem grauenvollen Seelenbett scharf gezeichnet. Man kann gar nicht oft genug hinsehen und schaudern.
Nichts in dieser Deutung ist aufgesetzt oder willkürlich. Der vorgeschobene Monolog Klytämnestras aus Aischylos´ Agamemnon macht klar, dass diese Frau mehr als nur ein gutes Motiv für die Ermordung ihres Gatten hat. Umso stärker kommt das Monströse dieser Gesellschaft ins Bild, in der menschliche Beziehung vorwiegend pervertiert wird. Ein Bad natürlich als Mord- und Tummelplatz, in dem zwei Kinder freundlich planschen. Sie reagieren auf die verrückte Königstochter, die sie samt ihren Familien offenbar wüst beschimpft hatte. Schwester Chrysothemis wird sich nichts sehnlicher als Kinder wünschen – ungeachtet des mörderischer Generationen-Fatums in dieser Familie. Völlig in das Abseitige reißt eine Nackte, die von einer Alten geduscht wird und sich anschließend als Menschenopfer entpuppt, die Vorhaltungen Elektras gegen den blutrünstigen Haushalt verifizierend.
Woran hier offensichtlich alle leiden, ist der absolute Mangel an Liebe. Klytämnestra sucht nach Zuwendung, die ihr nützt. Chrysothemis hofft, ihr Liebessehnen mit dem siegreichen Bruder erfüllt zu bekommen. Der wird aber von den Erinnyen fortgejagt. Dennoch ist sie mit ihrer pragmatischen Empathie die vielleicht am wenigsten beschädigte Figur. Einerseits scharwenzelt sie um die jeweils Mächtigen, andrerseits kümmert sie sich aber auch um die Ausgestoßenen. Innig das Spiel mit ihrer Schwester in der Durchdringung von schroffer Gegensätzlichkeit und gemeinsamer Vibration. Warlikowski lässt sie den Ägisth ermorden, doch wäscht sie auch die tote Mutter als letzten Liebesdienst. Hervorragend gespielt und gesungen von Vida Miknevičiūtė (in den letzten drei Vorstellungen ab 18. August übernimmt wieder Asmik Grigorian).
Dagegen versagt Elektra, das starke Zentrum aller Begegnungen, ziemlich bei der Umsetzung der Palastrevolte, abgesehen vom falschen Spiel mit Ägisth, dem sie in den Tod leuchtet. Ihre finale Selbstinszenierung kann nicht über die Leere hinwegtäuschen, in die sie sich mit ihrer Fixierung auf den Rachetod begeben hat, rettungslos traumatisiert als kindliche Zeugin des Vatermords. Nach dem Mord an der Mutter bleibt nichts mehr zu tun und damit auch nichts, um dafür zu leben. Die Verquickung des Schicksals beider Frauen ist deutlich herausgearbeitet in der psychologisch berückenden Begegnung der beiden. Noch gesteigert in Intensität und stimmlichem Ausdruck: Ausrine Stundyte und Tanja Ariane Baumgartner.
Bemerkenswert die eingespielte sängerische Qualität bis in die kleinste Rolle. Gemeinsam verdichten sich alle zu einem geschlossenen Gesamtbild von faszinierender Klarheit. Christopher Maltman überzeugt als Orest mit profundem Organ, Michael Laurenz als herrischer Ägisth.
Małgorzata Szczęśniaks funktionell wie atmosphärisch geschickt strukturierte Bühne, Felice Ross‘ zurückgenommene Lichtregie und Kamil Polaks Videoeinspielungen vermeiden Aufdringlichkeit, entfalten aber zum rechten Augenblick innige bis überwältigende Wirkung, die sich der Musik anschmiegt und sie unterstützt. Blut und existentielle Fliegenplage grüßen in gigantischer Dimension, nachdem man längst in den kathartischen Strom dieses elektrisierenden Werkes durch die Magie der Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst eingetaucht ist. Es wäre zu wünschen, dass dieser Inszenierung ein Leben nach den Festspielen im Repertoire eines Theaters zuteil werden kann.