Eine starke Impfdosis
FESTSPIELE / IGOR LEVIT
22/07/21 Selbstbewusste Meinungsbildung. Das ist ein Charakterzug von Igor Levit, egal ob in musikalischer Hinsicht auf dem Podium oder in seinen politischen Ansichten, wie er sie gerne in sozialen Medien äußert. Weniger Wohlmeinende nennen das vielleicht verhaltensauffällig. Levit ist jedenfalls ein eigener Kopf. Sein eigener Kopf.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein solcher Kopf setzt sich manchmal Dinge in eben diesen, auf die andere Köpfe nicht im Schlaf kämen. Da gab's einen Komponisten namens Ronald Stevenson (1928-2015), der es nicht wirklich zu überregionaler Bekanntheit gebracht hat. Intimkennern der Klavierliteratur ist er aber ob eines Stücks wenigstens ein Begriff: ob seiner Passacaglia on DSCH. Wiewohl Schotte, geizte Stevenson nicht mit Tönen. Man bekäme Lust, einen Computer die Noten dieses Mammut-Variationenwerks von anderthalb Stunden Dauer durchzählen zu lassen. Es ergäbe eine imponierende Zahl. 141 Seiten, das ist schon ein recht dickes Notenbuch.
D-Es-C-H, das sind die Initialen von Dmitri Schostakowitsch, aber das tut eigentlich wenig zur Sache. Wahrscheinlich war's für Stevenson mehr artifizielle Spielerei mit einem erprobt variationstauglichen Motiv, das dem geläufigen B-A-C-H ähnelt. Das hat man augenblicklich im Ohr, wenn auch der erste Halbtonschritt hinauf geht und nicht hinunter. Stevenson muss ein guter Klavierspieler gewesen sein, er hat die Passacaglia ja auch für sich geschrieben. Und er kannte die Literatur vom Barock bis hinauf zu Skrjabin (weiter aber eher nicht). So hat er nicht den BACH fließen lassen, sondern dem DSCH alle Schleusen geöffnet und eine bedrohliche pianistische Überflutung provoziert. Da gibt’s Paraphrasen auf die Sonatenform, den Walzer, den Marsch, die barocke Suite. Wiedererkennungseffekte sonder Zahl vom Nocturne bis zum spätromantischen Charakterstück (dort lag die eigentliche Stil-Heimat Stevensons). Natürlich wird auch Bachs Tastenwelt ausgiebigst durch die Mangel gedreht.
Für einen Tastentiger wie Igor Levit ein gefundenes Fressen. Das gesamte Klaviermenü einmal gut durchgekaut, und das ganz ohne Magenverstimmung. Levit ist ja ein Kopf-Musiker, der gegen die in diesen Klavier-Phantagorismen beständig lauernde Kitsch-Gefahr gezielt und konsequent ankämpft. Dem hört man einfach gerne zu.
Zu genau sollte man aber auch nicht hinhören, denn dann entdeckt man nicht wenig Leerlauf (im Stück, nicht in der Wiedergabe). Angesichts der Überfülle an Variationen und der extremen Dauer schreiben wohlmeinende Exegeten logischerweise von „Herausforderung“. Das muss man relativieren. Ein Pianist, der mit Liszts Années de pèlerinage auf Wanderschaft geht, steht wahrscheinlich vor deutlich größeren manuellen und ganz gewiss fordernderen gestalterischen Herausforderungen. So rasant es oft in Stevensons Passacaglia dahin geht, ist doch viel Virtuosengeflunker drin. So ist's letztlich auch für die Zuhörer eher eine urologische Herausforderung und nicht eine des Hör-Verständnisses. Aber es war fein, das mal tatsächlich live gehört zu haben. Die Gelegenheit bietet sich vermutlich nur ein Mal im Leben. Igor Levit hat die Standing ovations wohl verdient.
Ein bisserl hat sich's angefühlt wie zehn Eimer Impfstoff gegen Rachmaninow. Wirkt verlässlich auch lebenslang gegen Skrjabin. Und wahrscheinlich auch hinlänglich gegen Anton Rubinstein. Aber wollen wir wirklich gegen all deren schöne Musik immun werden?