Die Buhlschaft bestimmt nicht nur das Menü
FESTSPIELE / JEDERMANN
18/07/21 Wer hat die Hosen an im Hause Jedermann? Hugo von Hofmannsthal täte uns den Lebemann als erstes im Dialog mit dem Koch vorführen. Das Menü für die Tischgesellschaft kann ja gar nicht erlesen genug sein.
Von Reinhard Kriechbaum
In Salzburg nutzt Regisseur Michael Sturminger diese Szene, um gleich mal die Buhlschaft einzuführen. Sie sitzt auf Jedermanns Schultern, ihr Kleid verdeckt dessen Gesicht – und sie ist es, die den Essensplan vorgibt. Er tritt (mit dem Text des Kochs) durchaus fürs Recycling der Überbleibsel vom Vortag ein. Es gibt viele Schrauben, an denen man drehen kann im Jedermann. Entsprechend viel ist herumgedoktert worden in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Der Oberammergau-erprobte Christian Stückl (ab 2002 für elf Saisonen) und – deutlich kurzlebiger – die auf Monty Python-Humor setzenden Engländer Brian Mertes und Julian Crouch waren überaus fleißige Schraubendreher. Auch Michael Sturminger hat ab 2017 nicht gelinde eingegriffen in die Hofmannsthal'sche Dramaturgie.
Nun aber hat Sturminger, und das ist mehr als bemerkenswert, eine Kehrtwendung vollzogen. Mit komplett neuer oder durcheinander-gewirbelter Besetzung ging er die Sache weitgehend neu an. Einige wenige Umstellungen und Text-Neuverteilungen zwar, aber im Prinzip haben wir jetzt eine Hofmannsthal-Urtextaugabe vor uns. Am Premierenabend (17.7.) leider nicht am angestammten Platz vor der mächtigen Domfassade – dort ist's leicht, katholisch zu werden! – sondern im Großen Festspielhaus.
Nicht unehrgeizig also, Hofmannsthals Text getreu durchzustelzen und trotzdem das Zeitlose darin herausarbeiten zu wollen. Das geht gut mit dem neuen Jedermann, mit Lars Eidinger. Dem nimmt man die Rolle als Ich-AG mit prall-gottlosem Hedonismus voll ab. Und weil er ja beileibe kein Prasser von der traurigen Gestalt ist, rennen Armer Nachbar und Schuldknecht schier hoffnungslos an gegen den Hünen. Auch später wird er die allegorischen Figuren, die sich seinem Weg ins Jenseits widersagen oder sein Katholisch-Werden befördern, immer wieder locker hopps nehmen, vom Mammon bis zu den hier als größere Gruppe auftretenden, wiewohl schmächtigen Guten Werken. Von denen stemmt er gleich zwei zugleich hoch.
Für diesen Pfundskerl braucht's schon einen Glauben mit besonderem Charisma – Kathleen Morgeneyer. Die hält ihn auf Distanz. Und Edith Clever als Tod ist sowieso eine Größe für sich. Sie nimmt selbstbewusst neben Jedermann an jäh menschenleerer Tafel der Tischgesellschaft Platz, argumentiert gefährlich leise. Wenn sie an die Stirnseite dieser Tafel wechselt, sind die Machtverhältnisse ohnedies klar. In diesen Phasen, da Jedermann existenziell getroffen wird, ist Lars Eidinger äußerst konzentriert und nicht minder glaubhaft.
Schuldknecht und Mammon sind als Doppelrolle angelegt. Mirco Kreibich ist ein kleiner Wicht gegen Lars Eidinger. Sturminger lässt die Schuldknecht-Szene als Boxkampf ablaufen, und da da wird das Fliegengerwicht ordentlich hergezwiebelt. Das vermittel aber auch: Selbst ein Großformat-Jedermann muss seine Position erkämpfen und halten, und sei's mit Boxhandschuhen. Die Mammon-Szene lässt dann eher an David gegen Goliath denken. Sturmingers Jedermann ist ein Steinbruch mit ausreichend Ideen-Geröll. Das Fokussieren und Konzentrieren ist dieses Regisseurs Stärke auch diesmal nicht. Dass die Kostüme und die Musik für krass-postmoderne Verschnitte aus Barock und Gegenwart stehen, schafft Über-Zeitlichkeit, aber auch viel Durcheinander. Er sehe seine Arbeit als ein work in progress, als eine „ewige Dombaustelle“, wird Sturminger im Programmheft zitiert. Das ist legitim, gerade angesichts des Ikonischen, das dem Stück in Salzburg anhaftet.
Die Wechselbäder zwischen Turbulenz und Ernst sind durchaus fordernd. Sturminger setzt nämlich oft auch zu Vollbremsungen an. Ganz ohne Besserwisserei redet Angela Winkler als Mutter dem Sohn ins Gewissen, und der lange Dialog Jedermanns mit dem Guten Gesell (Anton Spieker) wird zu einem Ruhepol der Aufführung. Oder ist das Wort Stillstand besser am Platz? Ein Problem am Ersatzspielort ist die Textverständlichkeit. Mag sein, dass diese mit Hilfe der Microports am Domplatz deutlich besser ist als im Großen Festspielhaus, wo man schon sehr genau hinhören muss, um auch Zwischentöne aufzuschnappen. Da wurde am Premierenabend immerhin klar: Man nimmt den Text sehr ernst und erzeugt glaubhafte, psychologisch durchdachte und einleuchtende Stimmungsbilder. So ist sogar, wenn Mavie Hörbiger als rothaarige Teufelin auf Bockshuf-Kothurn durch den Zuschauerraum gen Bühne wuselt, viel Ernst drin. Wenn sie, vom Glauben abgeschmettert, auf allen Vieren von der Bühne kriecht, kann man nur sagen: Armer Teufel.
Und endlich: Die Buhlschaft. Der Rumor um diese Rolle gehört zur österreichischen Theater-Folklore. Heuer waren sogar die Haare ein Thema, denn Verena Altenberger, gerade super im Filmgeschäft, hat jüngst eine Krebskranke gespielt und den Kopf kahl rasiert. Buhlschaft mit Stoppelglatze oder Perücke? In der Aufführung kein Thema. Altenberger ist eine starke Buhlschaft, nicht nur, weil jetzt sie die Menüfolge vorgibt. Die Fronten zwischen ihr und Jedermann sind klar, es herrscht weibliche Selbstbestimmung. Dass das nichts wird mit dem gemeinsamen Weg ins Jenseits, macht sie ihm schon während der Tischgesellschafts-Szene klar (gute Idee, dieses Textstück vorzureihen). Und wenn es ernst wird: Eine lange, intensive choreographische Szene ohne Worte, starkes Körpertheater. Jedermann versucht's mit Sex, sie entwindet sich – und geht wortlos.
Die Musik von Wolfgang Mitterer und die Choreografien von Dan Safer sind überhaupt wichtige Elemente, formal und inhaltlich. Der Jedermann ist ja auch vom mittelalterlichen Totentanz inspiriert. Dieser Aspekt kommt nicht zu kurz in einer Inszenierung, die meilenweit davon entfernt ist, dramaturgisch abgerundet zu sein. Aber sie nimmt nicht nur das zeitlose Thema einer Lebens-Umkehr ernst, sondern auch die verknittelten Verse des Hugo von Hofmannsthal. Und die sind beileibe nicht so banal und querständig, wie ihnen oft nachgesagt wird.