Wir sind die Räuber. Jedermann
INTERVIEW / LARS EIDINGER
1112/20 Auf Tobias Moretti wird, wie berichtet, Lars Eidinger folgen. Er spielt im Festspielsommer 2021 den Jedermann. Im Gespräch betont er die Zeitlosigkeit großer Stoffe wie eben des Jedermann. Es gehe um "Konflikte, die für den Menschen unüberwindbar bleiben, die ihn ausmachen".
Worin liegt der Reiz der Rolle des Jedermann?
Lars Eidinger: Es ist die Erkenntnis, die ich in der Auseinandersetzung mit Brecht’s Dreigroschenfilm gewonnen habe, dass die Räuber laut Brecht keinem romantisch verklärten Bild einer Gangsterbande entsprechen dürfen, sondern die Bürger selbst sind. Wir sind die Räuber. Jedermann. Diese Herangehensweise fordert mich heraus. die mir zuteilwird. Ich bin dafür sehr dankbar. Es ist ein Lebenstraum, der in Erfüllung geht.
Warum wird – Ihrer Meinung nach – der Jedermann seit 1920 so erfolgreich aufgeführt?
Lars Eidinger: Es ist ein Klassiker. Was einen Klassiker ausmacht, ist die Tatsache, dass die Konflikte, die verhandelt werden, immanent sind. Das hat auch eine Tragik. Es sind Konflikte, die für den Menschen unüberwindbar bleiben, die ihn ausmachen. Wir werden die Zeit nicht erleben, in der Konflikte wie jene in Othello, Hamlet, Peer Gynt oder eben in Jedermann keine Brisanz oder Aktualität mehr haben. Die Konflikte im Jedermann sind universell und elementar. Der Mensch wird in all seinen Facetten und Abgründen durchleuchtet. Es ist ein Spiegelkabinett oder -labyrinth, an dessen Ende der Spiegel selbst in den Spiegel sieht. Es lädt den Zuschauer ein sich darin zu erkennen. Und darum geht es in der Kunst um Selbstreflektion und Erkenntnis. Wir sind Jedermann.
Wenn Sie sich die bisherigen Jedermann-Schauspieler anschauen, gibt es da einen, den Sie besonders inspirierend finden?
Lars Eidinger: Als Jedermann gesehen habe ich nur Nicholas Ofczarek auf dem Domplatz und Tobias Moretti in der Aufzeichnung. Und obwohl es viele herausragende Schauspielerpersönlichkeiten in der Reihe der Jedermann-Darsteller gibt, ist für mich Gert Voss der Größte. Ich hatte das Glück, ihm in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Maß für Maß zu begegnen, die 2011 bei den Salzburger Festspielen Premiere feierte. Er war ein Jahrhunderttalent. Der Begriff „Genie“ ist sehr abgedroschen und wird meines Erachtens viel zu leichtfertig und inflationär gebraucht, auf Gert Voss passt er. Er hatte eine ungeheure Kraft im Ausdruck, etwas von dem man glaubte, es sei unerschöpflich. Immer hatte man das Gefühl, so intensiv und kraftvoll seine Darstellung auch war, man bekomme dabei nur die Spitze des Eisbergs zu sehen. Und er hatte, so wie ein Musiker über das perfekte Gehör verfügen kann, das absolute Gespür für das Verhältnis von Aufwand und Wirkung. Das verlieh ihm seine unbedingte Glaubwürdigkeit.
Fängt man bei so einer Rolle, in der es um Leben und Tod geht, an über das eigene Leben nachzudenken?
Lars Eidinger: Darauf freue ich mich tatsächlich am meisten. Das ist ja eines der größten Privilegien, die man als Schauspieler hat. Dass man sich diesen Fragen stellt. Ich habe jetzt über 350 Mal Hamlet gespielt und mir immer wieder die Frage „Sein oder nicht sein“ gestellt. Es gibt keine elementarere Frage. Ich würde sogar so weit gehen, dass es das erste Zitat ist, das einem einfällt, wenn man an Kunst im Allgemeinen denkt. Es gibt darauf im Leben keine Antwort, außer „Sein oder nicht sein“. Leben heißt diesen Widerspruch aushalten. Das macht die Bewegung des Lebens aus. Der Tod ist Stillstand. Daher lautet Hamlets letzter Satz auch „Der Rest ist Stille“ – nicht „Schweigen“ wie es bei Schlegel fälschlicherweise übersetzt ist. „Silence“ braucht keine Anwesenheit im Gegensatz zu „Schweigen“. Mit Stille ist ein paradiesischer Zustand gemeint. Das sind Gedanken und Erkenntnisse, die ich über die Auseinandersetzung mit Hamlet gewonnen habe – und ich bin sehr gespannt, was mir Jedermann erzählt.
Sie haben 2011 in William Shakespeares „Maß für Maß“ Ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen gegeben. Welche Erinnerungen haben Sie an Salzburg?
Lars Eidinger: Ich erinnere mich, wie Birgit Minichmayr mich in brütender Hitze auf den Domplatz eingeladen hat, wo Nicholas Ofczarek den Jedermann gab. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Frau Immer noch Sturm auf der Perner-Insel gesehen habe – mit dem einstündigen Monolog von Jens Harzer am Ende – und wie wir im Gewitter in die Stadt zurückgeradelt sind. Ich erinnere mich, wie ich Anna Prohaska auf der Straße kennengelernt habe. Wie ich mit meiner Tochter Fiaker gefahren bin. Hans-Christian Schmid mich besucht hat. Dieses Jahr war für mich so intensiv und voller unvergesslicher Erlebnisse, dass ich es immer in meinem Herzen tragen werde.
Ihre Buhlschaft wird von Verena Altenberger gespielt. Sie kennen einander bereits. Was schätzen Sie an der Zusammenarbeit?
Lars Eidinger: Ich habe sie bei den Dreharbeiten zu David Schalkos Adaption von M – Eine Stadt sucht einen Mörder kennengelernt und das Gefühl gehabt, wir suchen nach dem gleichen. Sie ist eine sehr freie Spielerin, die sehr über den Partner geht. Auch ich bin immer stark vom Gegenüber abhängig, und ich glaube, dass man mit ihr sehr weit gehen kann, weil wir uns vertrauen.
Oft wird die Buhlschaft hauptsächlich mit Sinnlichkeit, Verführung und Erotik assoziiert… Was ist die Buhlschaft für Sie?
Lars Eidinger: Georg Trakls Ideal war die Gleichgeschlechtlichkeit. Die Theorie, dass der Grund allen Übels auf der Welt die Trennung in zwei Geschlechter ist. Deshalb ist der Begriff „sex“ im Englischen so treffend, weil er sowohl die Unterscheidung in die Geschlechter beschreibt, als auch den Geschlechtsakt. Ich glaube, dass die Buhlschaft und der Jedermann ein Ganzes ergeben.
Mit welchen Ideen gehen Sie in diese Inszenierung?
Lars Eidinger: Es gibt ein schönes Zitat von Helene Weigel: „Hast du eine Idee, vergiss sie“. (PSF)