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Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn

DOKUMENTATION / FESTSPIELE / MEMORANDUM

21/08/20 Ein Ausspruch von Luigi Nono steht als Motto über dem Memorandum des Salzburger Festspielfonds und des Direktoriums, das am Freitag (21.8.) unterzeichnet wurde: „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken.“ – Die Absichtserklärung im Wortlaut.

Präambel

Die Salzburger Festspiele sind ein Festspiel der Künste.

Festspiele im 21. Jahrhundert bedeuten mehr denn je, sich den Realitäten einer sich in dramatischem Tempo verändernden Welt zu stellen. Festspiele der Zukunft dürfen die Zeitläufte nicht nur zur Kenntnis nehmen, sie müssen klug und kreativ agieren. Sie müssen mehr denn je in der Lage sein, sich den Tatsachen einer digitalen Welt zu stellen, und sie müssen den Entwürfen einer beliebigen technischen Reproduzierbarkeit ein Gegenmodell anbieten.

Die Salzburger Festspiele müssen noch größere Anstrengungen unternehmen, um ihre Wesentlichkeit und Einzigartigkeit zu sichern. Sie müssen sich noch stärker auf die Bildung des Geistes und der Wahrnehmung sowie die Verständigung über Sinn und Wirklichkeit konzentrieren, um ein soziales Erleben von Gemeinschaft in einer individualisierten Gesellschaft zu ermöglichen. Festspiele werden morgen noch mehr als heute als Wissensvermittler und Weltgedächtnis, als Archiv unserer Welterkenntnis fungieren müssen. Oder – um es mit Robert Musil zu sagen – dem Wirklichkeitssinn einen „Möglichkeitssinn“ zur Seite stellen: den Sinn für das, was sein könnte oder geschehen müsste.

Grundsätze

Die Salzburger Festspiele feiern in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Exakt vor 100 Jahren wurde am 22. August 1920 Hugo von Hofmannsthals Jedermann in der Regie von Max Reinhardt erstmals auf dem Salzburger Domplatz aufgeführt und wurden damit die Salzburger Festspiele begründet. Seitdem ist das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ — mit wenigen Ausnahmen — fixer Bestandteil der Salzburger Festspiele. Der Salzburger Festspielfonds und das Direktorium der Salzburger Festspiele nehmen dieses Jubiläum zum Anlass, für das beginnende zweite Jahrhundert des Bestehens der Salzburger Festspiele grundsätzliche Gedanken zu formulieren:

1. Die Salzburger Festspiele wurden vor 100 Jahren nach den entsetzlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in einer Zeit von Not, bitterer Armut, aber auch politischer Radikalität gegründet, um die Kraft des Geistes und die menschliche Kreativität als das Verbindende zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Identitäten, Religionen und ethnischer Zugehörigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. So stand von Anfang an der Gedanke von Versöhnung und Frieden im Zentrum der Festspiel-Programmatik.

Max Reinhardts und Hugo von Hofmannsthals Idee eines Festspiels ist noch immer ein Modell für die künstlerische Inspiration einer Gesellschaft, die zunehmend ratloser ist als sie sich eingesteht und zunehmend empfangsbereiter als ihr zugestanden wird.

Die Salzburger Festspiele bekennen sich ausdrücklich zu dieser zentralen künstlerischen und politischen Funktion: ein Friedensprojekt zu sein, das im Geiste der Toleranz und Humanität unterschiedliche Sichtweisen, Interpretationen und Zugänge zulässt und fördert und niemanden von der Festspielidee ausschließt.

2. Die Geschichte der Salzburger Festspiele steht für die Widerstandskraft von Kunst und Kultur — insbesondere auch in Krisenzeiten: so etwa nach dem Ersten Weltkrieg und in den darauffolgenden 1920er-Jahren oder auch nach der 1000-Mark-Sperre in den Jahren 1934 bis 1937 sowie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und in der daran anschließenden Wiederaufbauzeit. Auch heute — im von der Corona-Krise überschatteten Jubiläumsjahr 2020 — setzen die Salzburger Festspiele ein Zeichen für die Kraft der Kunst.

Schwierige Zeiten stellen hohe Anforderungen an Künstlerinnen und Künstler, aber auch an das Publikum, ohne das sich kein Festspiel verwirklichen lässt, denn „,nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Zuschauerraum müssen die Besten sein, wenn das vollkommene Wunder entstehen soll, dessen das Theater an glücklichen Abenden fähig ist“ (Max Reinhardt).

Die Salzburger Festspiele werden auch in Hinkunft versuchen, der Kunst – selbst unter widrigsten Umständen – zu dem ihr gebührenden Stellenwert in der Gesellschaft zu verhelfen und dem Publikum den entsprechenden Zugang zur Kunst zu ermöglichen.

3. Die Geschichte Europas wurde in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder auch von Leid und Zerstörung geprägt, verursacht durch radikales nationalistisches Denken. Die Salzburger Festspiele begreifen Kunst als ein Geschenk an die gesamte Menschheit.

Salzburg liegt nicht nur geografisch in der Mitte Europas, das heißt: Die Salzburger Festspiele sind in erster Linie ein europäisches Festival und innerhalb Europas — ungeachtet ihrer Weltgeltung — ein österreichisches, um nicht zu sagen: Salzburger Festspiel. Die Salzburger Festspiele sind aber in ihrer Strahlkraft und in ihrer Wirkungsmacht weltweit konkurrenzlos und unbestritten.

Die Salzburger Festspiele verstehen sich auch weiterhin als internationales Festspiel: international in ihrer Programmatik, durch die mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler und ihre Besucherinnen und Besucher aus aller Welt.

4. Die Festspiel-Gründer, Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss, Franz Schalk, Alfred Roller u. a., sahen als Schlüssel für den Erfolg der Salzburger Festspiele höchste künstlerische Qualität: „Von allem das Höchste!“ Große Kunst rührt an die existenziellen, an die zentralen Fragen. Und für diese zentralen Fragen müssen in Salzburg mit den Mitteln der Kunst Antworten gesucht werden.

Die Salzburger Festspiele bekennen sich weiterhin zum Dreispartenbetrieb (Oper, Schauspiel, Konzert) sowie entschieden zur Qualität, der sie den Vorrang vor der Kommerzialität geben. Die Salzburger Festspiele leben das Bekenntnis zu höchster Qualität als zentralen Schlüssel zum Erfolg.

5. Die Geschichte der Salzburger Festspiele ist vor allem auch eine Geschichte von künstlerischen Sternstunden in Oper, Theater und Konzert. Es sind die großen künstlerischen Äußerungen aller Epochen und aller Zeiten, von Monteverdi bis zur Musik unserer Zeit, von der griechischen Tragödie bis zu zeitgenössischen Dramen, denen sich die Festspiele verpflichtet fühlen und die einem Festspiel Inhalt geben. Mit ihnen und für sie wollen die Salzburger Festspiele eine „Landkarte“ erfinden, in der Zusammenhänge über die Epochen hinweg erfahrbar werden und das Einzigartige und Besondere erlebbar wird: das nur für Salzburg Erdachte und nur hier Mögliche.

Die Salzburger Festspiele fühlen sich der Pflege der Werke der europäischen Kultur verpflichtet. Sie sehen eine besondere Aufgabe auch darin, der zeitgenössischen Kunst, zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten sowie Autorinnen und Autoren eine Bühne zu bieten und ihnen beste Aufführungsbedingungen zu ermöglichen.

6. Die Salzburger Festspiele bieten seit Jahren ein spezielles Kinder- und Jugendprogramm, um ein junges Publikum an Theater, Oper und klassische Musik heranzuführen.

Die Salzburger Festspiele sehen einen wichtigen Auftrag darin, verstärkt Aktivitäten zu setzen, um die kommende Generation für Musik und Theater zu begeistern und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit künstlerischer Auseinandersetzung zu schaffen.

7. Viele weltberühmte Künstlerinnen und Künstler haben ihre Karriere bei den Salzburger Festspielen gestartet oder hier den Durchbruch erlebt. Sie verleihen wiederum ihrerseits den Salzburger Festspielen künstlerisches und charismatisches Profil.

Die Salzburger Festspiele sehen — unter dem Primat der höchsten Qualitätsstandards — in der Förderung von Künstlerinnen- und Künstlerkarrieren eine wesentliche Aufgabe; von Salzburg sollen immer wieder Impulse der inhaltlichen, personellen und künstlerischen Erneuerung ausgehen.

8. Die Salzburger Festspiele fühlen sich in Stadt und Land Salzburg fest eingebettet: Neben ihrer primären kulturellen Aufgabe ist den Salzburger Festspielen auch ihre wirtschaftliche Bedeutung für Stadt und Land wohl bewusst.

Die Salzburger Festspiele wollen weiterhin kultureller und künstlerischer Impulsgeber und bedeutender wirtschaftlicher Motor in Salzburg sein und für Einkommen und Beschäftigung sorgen.

9. Die Salzburger Festspiele sehen sich als wichtiger Arbeitgeber für das bewährte und hochqualifizierte Stammpersonal, für Künstlerinnen und Künstler und für das in unterschiedlichsten Bereichen tätige Saisonpersonal — von der Bühne bis zur Technik, von den handwerklichen Werkstätten bis zum Vertrieb, vom Saaldienst bis hin zum Sicherheitspersonal.

Die Salzburger Festspiele wollen ein vorbildlicher Arbeitgeber für ihre hochqualifizierten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sein.

10. Nach den ersten 100 Jahren Salzburger Festspiele ist es an der Zeit, ein weiteres bauliches Kapitel der Festspielgeschichte aufzuschlagen: Die Festspielhäuser bedürfen einer grundlegenden Sanierung, Neuorganisation und Erweiterung, um den Herausforderungen der Zukunft — im Hinblick auf Arbeitnehmerschutz, Brandschutz, betriebsorganisatorische Abläufe, Arbeitsbedingungen für Künstlerinnen und Künstler sowie auf die vom Publikum von einem Festival mit Weltgeltung zu Recht erwarteten Qualitäten — entsprechen zu können. Der Salzburger Festspielbezirk mit seinen historischen Gebäuden ist in seiner baulichen Konstellation und besonderen Lage einmalig und somit das Fundament für die besondere Atmosphäre, die die Salzburger Festspiele unverwechselbar macht.

Die Salzburger Festspiele sehen es — neben all ihren künstlerischen, programmatischen und organisatorischen Aufgaben — als wesentliches Ziel der nächsten zehn Jahre, die großen investiven Vorhaben im Festspielbezirk gemeinsam mit Bund, Land und Stadt Salzburg umzusetzen.

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„Das Kunstwerk ist ein organisierter Traum“, sagte der ungarische Autor György Konrad. Das Kunstwerk Festspiele ist ein solch komplexer und organisierter Traum. Die Salzburger Festspiele müssen nicht immer neu geträumt oder erfunden werden. Sie müssen aber immer wieder in eine neue Gegenwart geführt werden, und diese neue Gegenwart kann nur aus der Erkenntnis der Vergangenheit heraus entstehen.

Für den Salzburger Festspielfonds und das Festspiel-Direktorium sind 100 Jahre Salzburger Festspiele ein freudiges Jubiläum und zugleich Auftrag und Verpflichtung, weiterhin daran zu arbeiten, dass die Salzburger Festspiele ihre weltweite Bedeutung erhalten, ausbauen und vertiefen.

Bild: SF/Neumayr / Leo
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