„Ein Abbild der ganzen Tonwelt im Auszug“
FESTSPIELE / SOLISTENKONZERT BARENBOIM
21/08/20 Siebzig Jahre Podiumspräsenz: Auf den Tag genau hätte Daniel Barenboim sich und seinen Fans kein schöneres Geschenk machen können als mit dem Klavierabend Mittwoch (19. 8.) im Großen Festspielhaus. Demgegenüber mutete das Programmheft, gelinde gesagt, einigermaßen mickrig an.
Von Horst Reischenböck
Nicht nur George Bernard Shaw galt sie als „schönste Sonate Ludwig van Beethovens“: die vorletzte, As-Dur op. 110. Philosophisch nachdenklich stieg Daniel Barenboim ins eröffnende Moderato cantabile ein, ganz der Vorgabe molto espressivo entsprechend. Er ließ auch bei aller gebotener Virtuosität im kurzen Allegro molto-Einschub nicht überbordend die Zügel schießen, um danach genauso logisch aus dem Rezitativ in den schmerzerfüllten Gesang des Finales einzusteigen, in dem Beethovens Genie in zweifacher Wiederholung dann dieses Arioso dolente mit einer grandiosen Fuge alterniert.
Das Hauptwerk war freilich Beethovens pianistisches Ultimum, die 33 Variationen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, denen sich Barenboim die nachfolgende Stunde ergab. Hans von Bülow nannte das Werk „den Mikrokosmos des Beethovenschen Geistes, ja sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt im Auszug“. Kühn schon gleich mit der Basslinie der widerborstig ersten Variation, die Barenboim nachdrücklich aus den Tasten meißelte. Über weitere fein abgestuft und somit nie überbordend hämmernde Akkorde hinweg, die den zugrunde liegenden „Schusterfleck“ zertrümmern. Bis hin in die unüberhörbar Karikatur des alla „Notte e giorno faticar“ hinein, Leporellos Registerarie aus Wolfgang Amadé Mozarts Don Giovanni, von Barenboim Opern-affin mit entsprechendem Nachdruck aus dem Steinway geschürft.
Das sind Belege für gelegentlich grimmigen Humor, der Reminiszenzen an Vorbilder beschwört, aber auch weit in die Zukunft voraus weist. Wie als Kontrast wurden dann wiederum zart verinnerlichte Lyrismen deutlich, die sogar Frederic Chopin vorweg zu nehmen scheinen. „Variatio delectat“ – Abwechslung macht Freude – wussten die Römer genau so gut wie Beethoven.
Nach wie vor setzt ja in Erstaunen, was Beethovens inneres Ohr hier alles an Details ablauschte. So wie es Alfred Brendel in einem Essay formulierte: „Das Thema regiert hier nicht mehr die Variationen, vielmehr bestimmen nun die Variationen, was das Thema ihnen Brauchbares zu bieten hat.“ Abgesehen von zwei kurzen Zäsuren hat Daniel Barenboim dies in einem durchgehend wahrhaft und nicht gering zu schätzenden Kraftakt differenziert und bravourös, bis ins abschließend allerletzte nun wirklich Tempo di Minuetto „grazioso e dolce“ formuliertes Menuett hinein, fulminant ausgeformt und gestaltet.
Verdientermaßen, weil eines Festspiels im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag würdig, wurde Barenboim mit lang anhaltenden standing ovations bedankt und gefeiert.