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Oder weiß hier einer mehr als ich?

FESTSPIELE / EVERYWOMAN

20/08/20 Übermorgen wird es so weit sein: das echte 100-Jahre-Jubiläum der Salzburger Festspiele. Am 22. August 1920 ist der Jedermann das erste Mal auf dem Domplatz doch nicht vom Teufel geholt worden. An der moralinsauren Ikone ernsthaft zu rütteln hat kein Intendant je gewagt. Aber es gibt jetzt Everywoman. Ganz ohne Moral-Einbläuung.

Von Reinhard Kriechbaum

Vor zwei Jahren haben die Festspiele bei Milo Rau um eine Neufassung des „Jedermann“ angefragt. Der hat zwar zuerst nein gesagt, sich dann aber doch bitten lassen – und gemeinsam mit der wunderbaren Schauspielerin Ursina Lardi nun mit „Everywoman“ etwas Leises, Eindringliches, Nachhaltiges geliefert. Ihre Jederfrau haben die beiden in Helga Bedau gefunden. Es hätte auch ein Jedermann sein können, denn um einen feministischen Zugang geht es hier ganz und gar nicht. 71 ist die Dame erst, aber das medizinische Urteil über sie ist gesprochen. Bauchspeicheldrüsenkrebs, inoperabel. Da ist's also bitterernst mit dem Ende.

Auf Video wird Helga Bedau zugespielt. Zuerst in einem die Hofmannsthal'sche Jedermann-Tischgesellschaft direkt zitierenden Setting, dann allein. Mutterseelenallein. Zwischen Ursula Lardi auf der Bühne und der Dame on screen entwickelt sich ein leises Zwiegespräch. Wie ist das für sie, sich jetzt in einem Theaterstück wieder zu finden, fragt Lardi. „Seltsam“, sagt Frau Bedau. „Vor allen Dingen, weil ich nicht weiß, ob ich bei der Premiere noch da sein werde“. Aufatmen beim Schlußapplaus. Sie ist noch da und sie war da, verneigte sich wie alle mit Mund-Nasen-Schutz (nicht nur beim Gastspiel der Berliner Philharmoniker gelten für deutsche Künstler auch in Salzburg deutsche Corona-Usancen).

Das Theater ist ihr nicht fremd, der Helga Bedau. Als Zwanzigjährige war sie Statistin an der Freien Volksbühne Berlin, Höhepunkt war eine stumme Rolle in „Romeo und Julia“. Und jetzt ihre letzte Rolle: „Die meisten sind nach drei Monaten tot, ich habe, wenn ich Glück habe, zwei Jahre.“ Sein oder nicht sein, das ist hier die letzte Frage.

Theaterspiel im Angesicht des sicheren Endes? Milo Rau und Ursina Lardi haben zuletzt engagiertes politisches Theater gemacht. In Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (2016), im Kongo recherchiert und in Lenin (2017), vor dem Hintergrund der letzten Lebenswochen des russischen Revolutionärs nach den Utopien des 20. Jahrhunderts gefragt. In zwei Wochen hat Milo Raus Bibelfilm Das neue Testament in Venedig Premiere. Auch da, wie er es aus Überzeugung hält, mit vielen, vielen Laiendarstellern.

Hier aber anderthalb Stunden denkbar intimer Konzentriertheit. Völlig unpolitisch, privat. Eine Seelenschau. Milo Rau und Ursina Lardi interessiert das ungewisse Nichts am Lebensende. Das Ausgeliefert-Sein an etwas so Unbekanntes wie unausweichliches. Aufbegehren dagegen? Sinnlos. Theologen sprechen von der Theodizee-Frage, von der Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm zugelassenen Skandalon des Todes. Milo Rau im Programmheft: „Alles andere könnte anders sein, der Tod nicht.“ Lardi en passant ans Publikum: „Oder weiß hier einer mehr als ich?“

So einfach kann man fragen in der Gewissheit, keine Antwort zu erhalten. Ganz ohne einen Anflug von Tränendrüsendrücken. Von einem Besuch bei einem Pferderennen hebt Lardi an zu erzählen, von einem strauchelnden, verletzten Pferd. Zwischendurch wird sie sich in einem Monolog über die letzten Dinge warm reden. So emotional das ist, es mündet nicht in Marktschreierei. Was bei Hofmannsthal als plakative Allegorie daher kommt, ist bei Rau/Lardi höchstens unterschwellige Metapher.

Der Mammon? Helga Bedau fragt Lardi, mit welcher Abendgage sie, die Berufsschauspielerin, als Hauptrollenträgerin rechnen könne. Sie, so die alte Dame, brauche 6.000 Euro. So vielkostet der Sargtransport nach Griechenland finden, wo ihr Sohn lebt und sie ihre letzte Ruhestätte finden will.

Metaphysik und Erdung, das geht an diesem Abend ganz wundersam unprätentiös zusammen. Und das mit einem Minimum an Worten. Viel Zeit hingegen, der totkranken Dame ins Gesicht zu schauen. Milde, weiche Züge. Nicht die Spur von Verhärmtheit. Da ist ein Mensch mit sich, mit seinem Leben und mit seinerm Ende im Reinen. Wie sie sterben wolle, fragt Ursula Lardi. Im Sommer, nach einem Regen... Da ist er auch schon, der Bühnen-Sprühregen, und die Schauspielerin setzt sich ans Klavier und spielt eine Choralbearbeitung von Bach, während Helga Bedau auf der Leinwand zu entschwinden scheint.

Doch noch ein Abgleiten ins Sentimentale, in plakative Gefühle? Nicht die Spur. Nochmal kommt Lardi auf die Bühne, redet von einer Lücke, einem Nichts, das sie immer wieder beeindrucke. Jenem zwischen Stückende und Schlussapplaus. Da ist er also wieder, der geheimnisvolle, mysteriöse Leerraum. Lardi legt eine Kassette in den altmodischen Player ein, und wir hören nochmal Helga Bedaus Stimme: Berlin. Charlottenburg. Die Pizzeria von damals gibt es noch, die Kantstraße auch. So wie in den 1968ern, als sie aus Lünen dorthin zog. „Doch, es war schön...“ Blackout.

Weitere Aufführungen am 20., 22., 23., 27. und 28. August, Szene Salzburg – www.salzburgerfestspiele.at
Premiere an der Schaubühne Berlin ist am 15. Oktober, ab 27. November sind Vorstellungen an dem von Milo Rau geleiteten NT Gent in Belgien vorgesehen
Bilder: Salzburger Festspiele / Armin Smailovic (3); Marco Borrelli (1)

 

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