Haushalten mit der Unendlichkeit
FESTSPIELE / BEETHOVEN-ZYKLUS / LEVIT
18/08/20 Igor Levits achtteiliger Beethoven-Sonatenzyklus wird in Bild und Ton auf ARTE Concert übertragen. Die ersten sechs Konzertmitschnitte sind, so meldete ARTE dieser Tage, bereits 110.000 Mal aufgerufen worden. Damit verbucht Levit dort mehr als ein Viertel aller Übertragungs-Klicks aus Salzburg (nach gegenwärtigem Stand 415.000) für sich.
Von Reinhard Kriechbaum
Ohne nun der bloßen Quote das Wort zu reden: Solche Zahlen sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich Qualität auch abseits des Konzertsaals mitteilt. Igor Levitts Exegesen der Beethoven-Sonaten rechnen momentan zum Spannendsten überhaupt, keine Frage: Da schreibt einer gerade Interpretationsgeschichte, und die wird glücklicherweise auf CD (Sony Classical) und eben auch im Konzertmitschnitt (ARTE) festgehalten. Daran wird künftig niemand aus der Pianisten-Zunft herum kommen.
Am Montag (17.8.) also der vorletzte Abschnitt, die Sonaten Nummer 27 bis 29. Vom vergleichsweise „Leichten“ – der empfindsamen, fast schmeichlerischen Sonate e-Moll – zum gewiss Verstörendsten, was im ersten Viertel des 19. Jahrhundert für Tasten geschrieben wurde, der Hammerklaviersonate B-Dur op. 106. Da wie dort findet Levit seine eigenen Lesarten. Eisern konsequent verfolgt er im e-Moll-Werk die weit schwingenden lyrischen Bögen des zweiten Satzes, nachdem er im ersten mit nicht weniger Folgerichtigkeit dem kantablen Element im Kleinen nachgehört hat. Ein pianistischer Belcanto-Beethoven, wie man ihn mit solcher Klarheit kaum einmal vermittelt bekommt.
Logischerweise eine völlig andere Welt in der Hammerklaviersonate, die übrigens nur deshalb so heißt, weil in diesen Jahren nach den Napoleonischen Wirren die deutsche Sprache neuen Stellenwert bekommen hatte. Beethoven, wiewohl 1819 schon völlig taub, rechnete selbstverständlich mit einem Pianoforte auf der Höhe der damaligen Zeit (zum heutigen Konzert-Steinway fehlte es damals freilich noch weit). Man dürfte kein Ende finden mit dem Aufzählen der vielen eigenständigen Lösungen, die Igor Levit findet. Nachdem er sich im Scherzo quasi die Hörner abgestoßen hat, verordnet er dem Publikum eine auffallend lange Sammlung. In dem Adagio sostenuto, Beethovens längstem langsamen Satz überhaupt) verbietet sich levit, so scheint's jeden „Input“. Da wird alle Energie von innen heraus entwickelt, aufgefaltet, transferiert. Diese bezwingende Viertelstunde beschreiben? Vierlleicht nennt man es am besten ein Haushalten mit der Unendlichkeit. Und wieder ein Hinüberziehen der Spannung, in die Largo-Einleitung zum Fugen-Finale: Aus diesen Akkordfolgen schöpften noch Liszt und Wagner. Und das anschließende Fugen-Pandämonium? Hart, schneidend, kantig wo nötig, aber auch stets mit jener Geschmeidigkeit im Ausformulieren melodischer Details, wie sie Igor Levit eben eignet. Die Übersucht hat sich dem Hörer wie von selbst erschlossen.
Eine Zugabe nach der Hammerklaviersonate? Das eigentlich undenkbare geht tatsächlich – aber natürlich offeriert Igor Levit nichts Gewöhnliches: Er wandte sich an sein Publikum um zu erklären, warum er sich für La chanson de la folle au bord de la mer von dem französischen Einzelgänger Charles-Valentin Alkan entschieden hat. Das völlig Irre kann auch streng, gebändigt und an der Oberfläche ruhig daher kommen...