Voller Wohllaut durch das Dunkel
FESTSPIELE / RSO / KENT NAGANO
15/08/20 Ein Besoffener pfeift auf den Frühling. Junge Damen zieren sich im Teehaus. Man hat Todessehnsucht... Gustav Mahlers Lied von der Erde strotzt nur so von „jugendstiligem“ Symbolismus, fernöstlich-orientalischen Klischees mit viel Jadestaub und wackerer „deutscher“ Trunksucht. Das verklingende „ewig“ rührt trotzdem zu Tränen. Üblicherweise.
Von Heidemarie Klabacher
Kent Nagano leitete Gustav Mahlers Lied von der Erde in der Felsenreitschule mit präzisem Gespür für kammermusikalische Delikatesse, öffnete den brillanten Bläsern Luft und Raum für den wienerischen Exotismus der 1911 uraufgeführten Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-)Stimme und Orchester. Das RSO Wien malte mit Kalligraphie-Pinseln verschiedenster Stärke und reich pigmentierten Tuschen exotische Szenen auf bodenständiges Augarten Porzellan.
Die Solisten waren niemand geringerer als die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner, die grandiose Klytämnestra in der Elektra, und der Tenor Piotr Beczala. Beide lieferten klangvolle Kantilene weitgehend ohne Text. Ein paar verständlich gesungene Phrasen da und dort – das ist zu wenig. „Voller Wohllaut durch das Dunkel“ heißt es im letzten Lied. Vokalsymphonie voller Wohllaut ohne Text zieht sich, auch bei nur gut einer Stunde Spielzeit.
Vor allem das sechste Lied Der Abschied, länger als die anderen fünf zusammen, sollte direkt ins Herz treffen. Die Frage „wohin er führe und auch warum es müsste sein“ muss erschüttern, und das aus scheinbar immer weiterer Ferne herüberklingende „ewig“ sollte der inneren Standhaftigkeit den Rest geben. Diesmal war das Wörtchen eher wörtlich zu nehmen, endlos, lange weilend. Langweilig.
Die von Mahler vertonten Gedichte von Hans Bethge sind freie Nachdichtungen von vielfachen Bearbeitungen von Übersetzungen und freien Übertragungen aus dem Chinesischen – von Mahler selber frei verwendet. Das Ganze hat mit chinesischer Lyrik etwa soviel zu tun, wie ein chinesischer Pavillon gemalt auf Augarten oder Meißner Porzellan. Ohne präzisen gestalterischen Umgang mit den stilistisch ohnehin mehr als anfechtbaren Texten wird aus dem Lied von der Erde reiner Schwulst. Die Wiedergabe am Freitag (14.8.) in der Felsenreitschule war nahe dran.
Zugegeben, im ersten Lied Das Trinklied vom Jammer der Erde ließ auch Kent Nagano mehr als nur die Korken knallen. Zudem ist hier Orchesterpart noch von besonders ausladender Üppigkeit. Piotr Beczala blieb nicht viel anderes übrig, als auf feste Stütze und heldentenorales Durchhalten zu setzen. Und es blieben immer noch viele strahlende Momente. Der Trunkene im Frühling des fünften Satzes hatte es im zierlich instrumentierten Vogelgeträller schon leichter: Der Vogel zwitschert: Ja! der Lenz ist da, Sei kommen über Nacht... Da hatten Nagano und das fulminante RSO Wien auch schon den Lautstärkeregler zurückgedreht.
Glasklar und wohltuend spielte der Pianist Till Fellner von dem Finale – diesem Stück mit „ästhetischem Überschuss“ (so hat einmal Peter Ruzicka das Wort Kitsch umschifft) – Arnold Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke op. 19 komponiert 1911. Ein sinnvoller zeitlich punktgenauer Kontrapunkt zur Mahler'schen Décadence.