Grandios durchgeknallt
FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / NELSONS
09/08/20 Irre Klangfetzen von Militärmärschen. Aus der Kaserne? Oder herüberklingend von der Kirtag-Orgel im Prater? Die wüsten Hammerschläge und überhaupt der Hang zur Gewalttätigkeit – das ginge ja noch. Erst die brutale Absage an jegliche Hoffnung macht die Sechste Mahler zum verstörenden Aufmarschplan mit Musik.
Von Heidemarie Klabacher
Brutale Gewalt im Marschtritt weicht im Scherzo der Lieblichkeit sich drehender Figürchen auf einer Spieluhr. Lieb. Nur wissen wir Heutigen seit Steven King und Shining, dass Schäfer und Schäferin unsäglicher Dinge fähig sind. Dass kreiselnde Dirndlröcke beim Ländler auf dem Dorfplatz gern auch mal physische und psychische Gewalt hinter dem Idyll verschleiern. Die Kuhglocken, in der Sechsten mehrmals nah und fern erklingend: keine Chance.
Kein Wunder, dass Sigmund Freud und Gustav Mahler Zeitgenossen waren, wenn auch der Erfinder der Psychoanalyse länger gelebt hat. Als Mahler 1903/04 an der Sechsten geschrieben hat, waren der Untergang des Reiches, Erster und Zweiter Weltkrieg vielleicht schon unvermeid- aber noch nicht absehbar. Ist die über der klassisch viersätzigen Symphonie a-Moll liegende Düsternis nun visionär? Wollte Mahler mit den wüsten Hammerschlägen die Grenzen einer Tonsprache niederreißen, die erst seine ungefähren Zeitgenossen Schönberg, Berg und Webern überwinden konnten?
Die kleine Trommel gibt den Rhythmus, in gleichem Schritt und Tritt folgen die grandios aufspielenden Wiener Philharmoniker dem Rattenfänger. Nur sind die Ratten eher Lemminge, die freiwillig in den Abgrund drängen. Die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Andris Nelsons haben diesen Todesmarsch in den Abgrund mit sagenhaftem Facettenreichtum ausgestaltet und auf einen Atem unerbittlich abrollen lassen.
Die vier Sätze fügen sich in diesem Werk ja zu einem einzigen Bogen. Das traumschöne Mahler'sche Andante an dritter Stelle macht das Fanal nur noch schlimmer. Stupende Ausritte in den grandiosen Bläsersoli waren wie bewegende Versuche, dem Massenwahn mit Individualität gegenüberzutreten - keine Chance. Genau so wenig, wie die lieblichen Kuhglocken, die bis zum bitteren Ende leitmotivisch Almfrieden und schönere Tage herauf beschwören wollen.
Die zielstrebige, sehend Richtung Abgrund steuernde Lesart von Andris Nelsons im Großen Festspielhaus machte das monumentale Stück greifbar, in seiner Anlage durchschaubar. Dieser scharfe Blick war zugleich Beschwörung und Absage an die Todessehnsucht.