Die Rache muss ein Wiener sein
FESTSPIELE / ELEKTRA
02/08/20 Ihren ersten Mann hat er abgeschlachtet, ihr Söhnchen auch. Die Frau hat er vergewaltigt. Dennoch wurde Klytämnestra zur Ehe mit dem Monster Agamemnon gezwungen. Alsbald hat er die erste gemeinsame Tochter den Göttern geopfert, für nichts als guten Wind zum Krieg-Spielen. Was Wunder, dass Klytämnestra diesen Mann mehr und mehr und bis zum Gattenmord hassen musste. Seine Kinder sehen den Schlachtmord in der Badewanne freilich anders. Besonders Elektra.
Von Heidemarie Klabacher
Elektra von Richard Strauss, die Neuproduktion der Festspiele in der Felsenreitschule, ist ein einziges rauschhaftes Schwelgen in Wohlklang und Opferblut. Selbst das Grillenzirpen, das dem gesprochenen Eröffnungsmonolog der Klytämnestra – weniger Verteidigungsrede als Tatsachenfeststellung – vorangeht, wirkt unheilvoll. Tatsächlich ist dieses Zirpen der Grillen ein direkter Konterpart zum imaginären Summen der Fliegen, die im Schlussbild ihren wüsten Reigen über dem Blutbad tanzen.
Klytämnestra und Ägisth werden irgendwann doch noch hingeschlachtet von heimkehrenden Orest. Seine Schwester Elektra, die zeitlebens nach dem Blut der Mutter lechzte, hat ihren taumelnden Triumph psychisch wie physisch nicht verkraftet: Auch die Titelheldin wird dem verwesenden Wirken der Fliegen nicht entgehen, wenn auch in der Regie von Krzysztof Warlikowski die tüchtige Schwester Chrysothemis die Leichen mit weißen Tüchern bedeckt. Bruder Orest, der mit dem Mutter- den Vatermord zu rächen meint, flieht vor den Rachegöttinnen, sprich, dem eigenen Gewissen.
Der schon vor Jahren ermordete Agamemnon ist als Person in Elektra nicht präsent, umso mehr als Albdruck in den Herzen und Seelen der Hinterbliebenen – und vor allem als Leitmotiv in der Titelpartie. Der ermordete – und mehr imaginierte als erinnerte Helden-Vater – vergiftet das Leben der Tochter: Textdichter Hugo von Hofmannsthal hat, entlang der Tragödie des Sophokles, den ausweglosen antiken Mythos in eine nicht weniger ausweglose psychoanalytisch grundierte Fin de Siecle-Tragödie verwandelt. Das Stück könnte zur Freud-Zeit genauso gut in einem prächtigen Wiener Palais spielen. Nicht nur der Tod, auch die Rache muss ein Wiener sein.
Tatsächlich scheint Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker die aberwitzig kreiselnden Toten- und Todestänze der Elektra-Partitur auf die in sich selbst kreiselnde Ringstraße verlegt zu haben. Das könnte abgeschmackt sein, ist aber so betörend klangschön, wie erschreckend erhellend: Die großen sehnsüchtigen Passagen der Chrysothemis etwa, die von einem ganz gewöhnlichen Frauen-Leben außerhalb der düsteren Palastmauern träumt, sind ebenso symphonisch detail- und klangfarbenreich ausgemalt, wie etwa die wüste Vision Elektras, in der sie, zwanghaft sich hineinsteigernd, Bilder des blutigen Triumphs malt vom Tag der Rache für den Vater: und wir schlachten dir die Rosse, die im Hause sind, wir treiben sie vor dem Grab zusammen, und sie ahnen den Tod und wiehern die Todeslust und sterben... Da lassen die Wiener Musiker und Musikerinnen die Rosse aus der Partitur heraus galoppieren und treiben sie hinaus auf ein psychisch-psychologisches Armageddon. Auf eine Blutweide, auf der es nur Verlierer gibt.
Die litauische Sopranistin Ausrine Stundyte gibt mit der Titelpartie der Elektra ihr stupendes Salzburg-Debüt. Sie überwältigt sängerisch mit ihrer Interpretation, in der jeder Ton in jeder Lage vollendet gerundet und jede Phrase durchdacht ist. Ebenso überzeugt Ausrine Stundyte darstellerisch mit einer Umsetzung, in der keine Geste zu groß oder zu klein, sprich keine Gemütsbewegung anders als schauspielerisch wohldosiert gestaltet ist.
Regisseur Krzysztof Warlikowski setzt im Übermaß der emotionalen und klanglichen Opulenz auf akribisch gestaltete Frauen-Porträts. (Die Männer kommen ja nur am Ende und auch da nur am Rande vor.) Tanja Ariane Baumgartner als Klytämnestra gibt keine blutrünstige Verrückte, die ihren Kindern nachstellt aus Angst vor deren Rache.
Es ist eine zerstörte Frau, die ihre Ängste zu bannen meint, indem sie ganz überlegt hoffend Blutopfer darbringen lässt. In der Eröffnungsszene fragt man sich, wer wohl das anonyme junge Mädchen ist, das von einer alten Frau unter der Dusche gewaschen wird. Eine verstörende Videosequenz macht es – unter Aussparung allen Blutes – deutlich: Die Alte ist die Blutpriesterin, die Junge war wohl nur eines der Opfer, mit denen Klytämnestra die Götter gnädig stimmen und ihren Schlaf zurückbekommen will... Auch Tanja Ariane Baumgartner gestaltet ihre über-emotionale Figur mit allen Gaben sängerischer Souveränität aus, ohne das subtile Psychogramm zu überfrachten.
Die Sopranistin Asmik Grigorian, die gefeierte Salome der letzten Jahre, setzt als starke, dem Leben zugewandte Chrysothemis Glanzlichter. Michael Laurenz gibt in seiner kleinen Partie einen stimmlich strahlenden Ägisth. Ebenso hervorragend gecastet ist Derek Welton als Orest.
Die Bühne von Małgorzata Szczęśniak wird von einem modernen gläsernen Gebäude links und einem langen Schwimmbad rechts dominiert. Im Glashaus ruht Klytämnestra. Dort ist aber auch der Opferaltar. Wenn es blutig wird, verhindert die raffinierte Beleuchtung von Felice Ross den Einblick. Zum Schlachtfest des Orest rückt der Glaskobel in die Mitte – und wird mit erstem Messerstich und Schrei tiefschwarz. Die Videosequenzen von Kamil Polak sind wohldosiert eingesetzt – sie vertiefen den Schrecken, ohne Bilder zu verdoppeln. Die Blutspritzer des Schlussbildes gehen – wie im Splasherfilm – über die gesamte Arkadenwand. Die Fliegen kommen. Es werden immer mehr. Der Blutfleck wird kleiner, bleibt als Mal im kollektiven Gedächtnis.