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Tusch. Musik setzt ein

ESSAY / REGIE-BUCH JEDERMANN

29/07/20Sie sitzen ja alle im Totenhemd.“ entsetzt, abgebrochen steht rot-unterstrichen neben dem berühmten Satz. Darunter Er wischt sich zitternd den Schweiß. Pausen und Betonungen mit Schräg-Strichen und Bögen markiert. Das Ganze ziert ein dicker roter Violinschlüssel... Viele Anweisungen für nur eine Textzeile. Im Regiebuch von Max Reinhardt überlagern sich freilich Notizen zum Berliner, Salzburger und New Yorker Jedermann.

Von Heidemarie Klabacher

Die Jedermann-Überschreibung von Ferdinand Schmalz jedermann (stirbt) von 2018 habe er im Burgtheater gesehen, erzählte Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser vorige Woche im großen Falter-Interview. Es sei zurecht ein großer Erfolg gewesen. Aber er, so Hinterhäuser, „wäre nicht gut beraten, so eine Überschreibung in Salzburg zu initiieren“. Als zeitgenössischer Gegenentwurf zum Jedermann auf dem Domplatz kommt im Jubiläums-Corna-Sonderjahr everywoman von Milo Rau und Ursina Ladri in der Szene Salzburg zur Uraufführung.

Das „Überschreiben“ besorgte der Perfektionist Max Reinhardt ohnehin selber: Dieser habe „in seinem Leben weit über hundert Inszenierungen gemacht und zu jeder ein dickes Regiebuch verfaßt, das immer drei- und viermal so viele Worte enthält als das Stück selbst“, berichtet der Textdichter Hugo von Hofmannsthal. Jedes dieser Regiebücher zeichne „für jede einzelne Szene des Stückes und für jede Zeile des Textes die wechselnde Lautstärke vor, jede einzelne Pause und ihre musikalische und pathetische Bedeutung, … jede Gebärde jedes einzelnen der Mitspielenden bis zum geringsten Statisten, und alles, was zu dieser Gebärde gehört“.

Das kann man bestätigen: Eine kommentierte Faksimile-Ausgabe des Regiebuches macht die Kontrolle Zeile für Zeile möglich: Erst Geberde (Gebärde; Anm.) im Kreis … Zeigef. auf alle schrieb Reinhardt neben allen oben zitierten Anmerkungen zur Totenhemd-Zeile.

Links. Weil rechts wäre bei bestem Willen kein Platz mehr gewesen. Im Original – das wundersamerweise im Archiv der Salzburger Festspiele liegt, während ein Großteil des Reinhardt-Nachlasses in den USA, in The Max Reinhardt Archives & Library der State University of New York liegt – ist das die Seite 43, im Faksimile ist es die Seite 109.

Ob sich all die wissenschaftliche Akribie, herausgeberische Mühe und insgesamt 119 Euro 90 für den „normalen“ Jedermann-Sinnsucher lohnen? Auf jeden Fall. Hand auf's Herz, wer kann dem Jedermann – ob ihm Moretti, Simonischek oder Brandauer Gestalt verleihen – widerstehen. Kein Wunder, dass der liebe Gott nachgegeben und den Teufel auf die Ränge verwiesen hat. Und hat man als Mit-Sünder erst einmal auf den rauen Bänken, Feind jedes feinen Kleides, Platz genommen, kann man sich der so altmodischen wie überzeitlichen Lehre von der Möglichkeit der Vergebung auch nicht entziehen. Diese kaum rational (etwa mit überragender Textqualität) erklärbare Faszination allein lohnt das Stöbern.

Tatsächlich ist, Tradition hin oder her, vom Ur-Text Hofmannsthals ja doch einiges auf der Strecke geblieben in hundert Jahren Salzburger Aufführungsgeschichte. Dem aktuellen Jedermann, Tobias Moretti, sei Dank, gibt es ja seit vorigem Jahr ein Büchlein, das die derzeit gültige Textfassung festhält und einen Vergleich mit dem Stück ermöglicht. Aber das Vergleichen bleibt mühsam. Für das Neue Testament gibt es sogenannte „Synopsen“, Ausgaben, die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den vier Evangelisten genau erkennbar machen. Die Jedermann-Synopse, die Nebeneinanderstellung der Textfassungen über die Jahrzehnte wie über das gesamte Jahrhundert steht noch aus. Wäre doch was für den 150. Geburtstag der Festspiele. Mit Hilfe des Regie-Buches kann nun jedenfalls der weite Weg nachvollzogen werden, den die Produktion zurückgelegt hat – vom steifleinenen Mysterienspiel zum misslungenen Meeting der Investment-Banker.

Das Regie-Buch allein, Band 1 der neuen Ausgabe, könnte Hürden bieten. Die Kurrentschrift des Regisseurs ist nicht ganz und gar unlesbar, aber die vielen „Über- und Nebeneinander-Schreibungen“ in verschiedenen Farben bis an den Rand, bieten doch viele Rätsel für ungeübte De-Chiffrierer. Da kommt Band 2 mit der wissenschaftlich akribischen Übertragung in gut lesbare gedruckte Buchstaben sehr zu pass.

In Berlin hat Reinhardt Anmerkungen mit Bleistift und schwarzer Tinte eingetragen. Für Salzburg verwendete er überwiegend einen blauen Stift bzw. violette Tinte. Notizen mit rotem Stift und weitere Eintragungen mit Tinte kamen später in New York hinzu.“

„Ohne die Hilfe der Dunkelheit, in der man Lichteffekte erzeugen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf jeden beliebigen Punkt konzentrieren kann, spielen wir dieses Spiel, in dem Begriffe personifiziert werden, Begriffe wie der Glaube, die guten Werke, das Geld“, so Max Reinhardt im Text Festliche Spiele aus 1935.

Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler umreißt im Vorwort zur Faksimilie-Ausgabe des Jedermann-Regiebuchs von Max Reinhardt die so gut bekannte, wie immer wieder faszinierende Frühgeschichte der Produktion auf dem Domplatz. Beiläufig etwa erinnernd an die „reaktionären Kreise der Stadt“, die es dem Fürsterzbischof Ignaz Rieder einst übelgenommen haben, dass Reinhardt nicht nur vor dem Dom spielen, sondern auch Orgel und Glocken in das nun wirklich nicht frivole Spiel vom Sterben des Reichen Mannes einbinden durfte. Oder, ebenso knapp wie anschaulich erinnernd an die wirtschaftlich düstere Lage in Österreich und Europa zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs.

Uraufgeführt worden war Hugo von Hofmannsthals Jedermann bereits 1911 im Berliner Zirkus Schumann, „aber zum durchschlagenden Erfolg wurde er erst vor dem Salzburger Dom“, beschreibt Helga Rabl-Stadler die Geburtsstunde der Salzburger Festspiele: „In Ermangelung eines geeigneten Werkes und eines eigenen Festspielhauses, dessen Errichtung durch die galoppierende Inflation in weite Ferne gerückt war, setzte Max Reinhardt kurzentschlossen Hofmannsthals Jedermann an.“ Alles weitere ist lebendige Festspiel-Geschichte. Lücken in der Aufführungs-Serie gibt es nur von 1922 bis 1925 und 1938 bis 1945. „Schon die erste Aufführung 1920 war ein großer Erfolg, und dieser hielt an. Nach über siebenhundert Vorstellungen in einem Jahrhundert ist der Jedermann zentraler Bestandteil der DNA der Salzburger Festspiele. Aus einer Notlösung wurde das erfolgreichste und dauerhafteste Provisorium der Theatergeschichte.“

Nun kann man diesem theatergeschichtlichen Provisorium so nahe kommen, wie noch nie: Das Jedermann-Regiebuch ist in einer faksimilierten, transkribierten und kommentierten zweibändigen Edition im Verlag Hollitzer erschienen, der, laut Vorwort, ein „persönliches“, nicht nur ein theaterhistorisches Interesse an Max Reinhardts Regiebuch hat: „Der damalige Co-Inhaber Franz Hollitzer war mit einer der Mitwirkenden, Tini (Ernestine) Senders, verehelicht.“ Tini Senders spielte 1903/04 in Berlin unter Reinhardt am „Neuen Theater“, dem heutigen Theater am Schiffbauerdamm, „wurde danach ans Wiener Burgtheater engagiert und gab 1920 in Salzburg des Schuldknechts Weib“. 1925 entwarf Franz Hollitzers Cousin Carl Leopold, „Historienmaler, Karikaturist, Sänger und Kabarettist“ für Reinhardt die Kostüme zur Uraufführung von Franz Werfels Juarez und Maximilian am Theater in der Josefstadt.

„Der Hofmannsthal’sche Text war 1911 bei S. Fischer in Berlin erschienen. Max Reinhardt ließ sich daraus ein Regiebuch machen: durchschossene Seiten, mit je einer Text- und einer Leerseite. Auf den leeren Seiten machte er Anmerkungen, räumliche Anweisungen, Zeichnungen zur Bühne und Notizen zu Stellungen der Figuren. Das Buch reiste mit ihm um die halbe Welt, von Berlin nach Salzburg und schließlich sogar nach New York“, beschreibt Helga Rabl-Stadler das Herzstück der Festspiele. Max Reinhardt hat das Buch zwischen 1911 und 1927 für zumindest drei Inszenierungen des Stücks (1911 in Berlin, 1920
 in Salzburg und 1927 in New York) verwendet.

Der Großteil des Reinhardt-Nachlasses liegt in den USA, in The Max Reinhardt Archives & Library der State University of New York. Weitere Teile des Nachlasses bewahrt seit 2012 die Wienbibliothek im Rathaus. Dort liegen auch die Reden zu Gastspielen in Norwegen, da da beschreibt der Regisseur Reinhardt, was den Regisseur antreibt, wie aus der Vorstellung ein Regie-Buch wird: „Plötzlich sind seine Schauspieler da, seine eigenen Schauspieler, die er kennt wie seine Tasche. Sie drängen sich in seine Gedanken, greifen nach den geister-haften Wesen, wollen sich mit ihnen befreunden, stossen sich wieder ab, gruppieren sich anders, ziehen die Gestalten nach oben ins Licht. Seine geistige Bühne bevölkert sich, kreißt und gebiert mit einem Zauberschlag eine neue wunder-volle Welt. [...] Er schreibt fieberhaft, gejagt, gehetzt, was er erlebt hat: neben jeden Satz eine Bemerkung, eine Note, einen Tonfall und dann, wie alles aussehen und klingen soll. Eine vollkommene Partitur. Sein Regiebuch.

Und über die Anfänge der Salzburger Jedermann-Inszenierung auf dem Domplatz: „Die Zufälligkeiten des Tages, der Flug der Tauben, das Gewitterige der Atmosphäre schieben sich in unser Spiel und verleihen ihm einen eigenartigen, immer wechselnden Zauber.“ Viel hat sich verändert. Der Zauber blieb.

Max Reinhardt: Regiebuch zu Hugo von Hofmannsthals Jedermann. Faksimile. Hg. vom Salzburger Festspielfonds. Zugeeignet von Don Juan Archiv Wien und Hans Ernst Weidinger
Max Reinhard: Regiebuch zu Hugo von Hofmannsthals Jedermann. Edition & Kommentare. Hg. von Harald Gschwandtner, Evelyn Annuß, Edda Fuhrich und Norbert Christian Wolf für den Salzburger Festspielfonds - Hollitzer Verlag, Wien 2020. Zwei Bände im Schuber. 572 Seiten, 80 bwz. 39.90 Euro www.hollitzer.at
Bilder: Hollitzer

 

 

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