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Volkslieder – zitiert, überwältigt, missbraucht

FESTSPIELE / RSO WIEN / JONATHAN NOTT

11/08/19 Die Riesenbühne der Felsenreitschule für sizilianische Volkslieder? Berios Zugang zu deren Verarbeitung in symphonischer Dimension ist durchaus mit Mahler und dessen Vokabular vergleichbar.

Von Erhard Petzel

So wie nach dem Kuckucksruf in der Ersten Sinfonie von Gustav Mahler die Quinten unter einem hohen Geigenvibrato in ihr Naturweben fallen, sind ähnliche Klangstrukturen am Beginn von Berios Voci (Folk Songs II für Soloviola und zwei Instrumentalgruppen) zu beobachten. Wie bei Mahler sind die eingesetzten Melodien mehr als nur kurz zitiertes Material. Sie können abschnittsweise in folkloristischer Hartnäckigkeit auf ihre Rolle als strukturbildende Größe bestehen. Voci und Mahlers Erste lagen am Samstag (10.8.) in der felsenreitschule auf den Pulten des ORF-Radio-Symphonieorchesters Wien unter Jonathan Nott.

Zieht man die Entwicklung des Volkstümlichen vor allem bei den Komponisten Osteuropas wie Bartók oder diversen Russen im 20. Jahrhundert in Betracht, erschließt sich durchaus das Wirken von Traditionen zwischen Mahler und Berio. Antoine Tamestit spielt seine Stradivari-Bratsche vor einem geteilten Klangkörper. In der Felsenreitschule sitzt der eine Teil zentral vorne als unmittelbarer Partner von Dirigent und Solist, der andere füllt die gesamte hintere Bühnenbreite aus. Beide unterscheiden sich in ihrer Besetzung, weisen aber Mitglieder aus jeder Instrumentengruppe auf. Zwei Schlagwerkbatterien flankieren die hinteren Bühnenseiten, ein Gong schließt die vordere Instrumentengruppe ab. Optisch wie akustisch wird diese Aufstellung durch Podien unterstützt.

Die so entstehende Raumtiefe des Klanges ist umwerfend. Berios Musik geht in einem durch, erhält aber Binnengliederung durch Analogien in der Bearbeitungsart und im Wesen diverser Melodien beziehungsweise deren durchbrochener Elemente, vorgetragen von der Solobratsche, vom Orchester in vielfältiger Weise übernommen, unterlegt oder konterkariert. Da drängt sich zweimal Geterztes vor, trumpft Tanzbares auf, manches hat virtuoser Attitüde. Wichtig sind aber immer auch irisierend ruhende Einzeltöne und -klänge, die recht forsch durch diverse Ausbrüche zerstampft werden können. Antoine Tamestit und das ORF-RSO Wien unter Jonathan Nott zelebrieren die jeweiligen den Liedern zugrunde liegenden Stimmungen.

Nicht ganz so glücklich gelingt der Ensembleklang bei Mahlers Erster Sinfonie. Das Orchester wirkt zunächst etwas mumpfig. Balance und Präzision haben sozusagen noch Luft nach oben. Richtig in Stimmung kommt man dann bei Bruder Jakob, die blauen Augen des Schatzes geraten verhalten und durchaus berührend. Leider wird diese Stimmung von Teilen des Publikums für Hustattacken genützt. Und leider wird nach der Wiederholung des Moll-mutierten Frère Jacques-Motivs der Einsatz unnötig verwackelt. Das wiedergekehrte Waldweben im Schlusssatz gelingt dann beglückend und führt zu einem überzeugenden Finale, das die Publikums-Euphorie entsprechend anheizt.

Mahler zitiert sich selbst mit den Melodien aus seinen Liedern eines fahrenden Gesellen mit der Gesangsstimme in Instrumenten und Klangfarben des Orchesters. Nono schrieb nach der Bearbeitung von internationalen Volksweisen für die Stimme seiner Frau die sizilianischer Weisen für den Bratscher Aldo Bennici. Laut Programmheft waren die Prinzipien Berios für so eine Adaption, sich emotional mit dem Original zu identifizieren, mit diesem zu experimentieren, es zu überwältigen und zu missbrauchen. Das Werk auf sich wirken lassend, nimmt man ihm diesen Anspruch gerne und mit interessierter Aufmerksamkeit ab. Vor allem, wenn sich ein Solist wie Antoine Tamestit mit seiner ganzen Persönlichkeit ins Zeug legt, den hölzernen Corpus seiner mondänen Signora-Stradivari zum Singen zu bringen.

Hörfunkübertragung am 16. August um 19.30 Uhr in Ö1
Bild: SF / Marco Borrelli

 

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