Zuschauen oder doch besser zuhören?
FESTSPIELE / WINTERREISE
09/08/19 2017, im ersten Jahr der Intendanz Hinterhäuser gab Matthias Goerne die Titelpartie in Alban Bergs Oper Wozzeck in der überwältigenden Umsetzung von William Kentridge. Nun sang der Bariton Schuberts Winterreise, vom Intendanten auf dem Klavier begleitet, in der Visualisierung des südafrikanischen Grenzgängers zwischen den Künsten: eine Produktion, die seit ihrer Uraufführung bei den Wiener Festswochen 2014 bestaunt und diskutiert wird.
Von Heidemarie Klabacher
An den Fakten hat sich nichts geändert. Zu den 24 Liedern der Winterreise D 911 Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller von Franz Schubert haben der Regisseur William Kentridge, die Bühnenbildnerin Sabine Theunissen und die Kostümbildnerin Greta Goiris Kostüme (das Wozzeck-Kernteam von 2017) Animationsfilm-Miniaturen geschaffen: basierend vor allem auf Zeichnungen des bildenen Künstlers, Filmemachers und Regisseurs. Es war eine Produktion des Festival d’Aix-en-Provence in Koproduktion mit den Wiener Festwochen, dem Holland Festival, den Kunstfestspielen Herrenhausen, dem Lincoln Center, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und der Opéra de Lille.
Ob die erschütternden Lieder der Winterreise Richtung Erstarrung und Tod durch inneres wie äußeres Erfrieren im Original für Stimme und Klavier allein nicht gehaltvoll genug sind, wurde bei jeder Wiederaufführung zwischen Moskau und New York, Singapur und Seoul jeweils neu diskutiert. Am Donnerstag (8.8.) stellten sich die Winter-Weltreisenden im Großen Festspielhaus (ein letztes Mal, wie es heißt) dieser Disksussion – die offen bleiben muss.
Die 24 Sequenzen des grandiosen Bildmagiers William Kentridge, der Krieg, blutige Gefechte, Unterdrückung und Tod auf singulär anschauliche und sinnliche Weise darstellt und zugleich verfemdet, sind überwältigend. Sie sind natürlich keine „Bebilderung“ der Wilhelm Müller'schen Gedichte. Die Landschaftsbilder allein schaffen Distanz, strotzen nicht von Lindenbäumen, sondern zollen der südafrikanischen Heimat des Künstlers Tribut. Die Erinnerung an die große Kentridge-Ausstellug im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg im „Wozzeck Jahr“ ist während des Liederabends lebendig geworden – nicht erst zum Leiermann angesichts der Prozession sich unter der Last seltsamer Gegenstände dahinschleppender Figuren. Auch der in keine Richtung weisende Wegweiser aus dem gleichnamigen Lied wird noch einmal vorüber gezogen. Leitmotivisch, überhaupt im Werk Kentridges, sind der auch Zyklus mehrmals auftauchende trichterartige Lautsprecher, Stadtpläne, Listen (hier von Verstorbenen) oder durch Bücher marschierende Figuren: Man kennt die Versatzstücke. Doch jeder Film erzählt eine neue Geschichte.
Wie gerne würde man sich auf die Film-Miniaturen konzentrieren, auf die wundersame Story etwa von dem Künstler, dem die Zeichnungen nicht und nicht auf dem Blatt bleiben wollen, dem sogar die Stempelfarbe immer wieder davon huscht – bis alle Farbe den Künstler überwältigt und auslöscht: Wie gerne würde man mal drüber nachdenken, was das mit den Erlebnissen des Wanderers Im Dorfe zu tun haben könnte. Oder die so bewegende Sequenz zur Täuschung, in der vom Krieg erzählt wird: Was gäbe es da nicht alles wahrzunehmen an blutigen Wahrheiten. Leichter zu „dechiffrieren“ ist die Sequenz zum Frühlingstraum, die, mit einer einer Kaffeetasse als erzählerischer Klammer, von immerhin denkmöglicher Geborgenheit im Schoße einer Frau erzählt.
Tatsächlich hat man für all das aber gar keine Zeit und keine Resourcen in der Wahrnehmungskraft, keinen Nerv - um es klipp und klar zu sagen. Denn man möchte sich konzentrieren auf die Lieder in der Interpreation von Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser. Auf diese aus einem einzigen gemeinsamen Klang von Stimme und Klavier sich entwickelnde Winterreise. Man möchste sich konzentrieren auf jede Zeile und Phrase, auf das betörende samtweiche Pianissimo des Baritons in den hohen Lagen, seine voluminöse und virtuoser denn je kontrollierte Mittellage und Tiefe, auf die stupende Leichtigkeit in der Textbehandlung, die jedes einzelne Wort gesungene Goernes verstehbar macht. Genauso aufmerksam zu- und nach-hören möchte man jeder Mittel- und Randstimme im Klavierpart, jeder Linie, jeder noch so kleinen Figur, die Markus Hinterhäuser so delikat zurückhaltend aufblühen lässt. Das gemeinsame Tempo der beiden Interpreten ist eher ruhig. Selten hört man eine so „langsame“ Winterreise, in der auch die dramatisch auszuckenden Lieder ganz der Wortdeutlichkeit verpflichtet bleiben.
Nicht gern lässt man sich von den Bildern von dieser Musik ablenken – und umgekehrt. Beides zusammen als Einheit wahrzunehmen und dabei „Bild“ und „Ton“ gleichzeitig wirklich zu würdigen, ist unmöglich. Dennoch natürlich ein Erlebnis.
Bilder: SF / Marco Borrelli (1); Marc Shoul (1)