Von Linie und Bruch
FESTSPIELE / KAMMERKONZERT / WIENER PHILHARMONIKER
08/08/19 Kein eigentliches Ensemble interpretiert keine eigentliche Kammermusik. Mitglieder der Wiener Philharmoniker finden sich im Großen Saal mit Brahms' Sextett und Enescus Oktett konfrontiert. Kein Krieg der Zwischendinge, sondern ein leiser Einklang.
Von Franz Jäger-Waldau
Eine Melodie begleitet ihren Dreiklang – eine Viereinigkeit, die sich spiegelt: Das Streichquartett ist die körperliche Abbildung dieser Idee. Aber für Brahms ist es zuerst unantastbar: Beethoven stirbt noch immer betäubend über dem Quartett und seiner Vollendung dahin. Nach vielen gescheiterten Versuchen (Brahms behauptete, mehr als zwanzig Streichquartette verworfen zu haben) trennt sich der Komponist von der idealen Vierstimmigkeit und fügt ihr zwei neue Organe hinzu: Sein Streichsextett G-Dur op. 36 ist ein Zwischending aus Sinfonie und Kammermusik, und so klingt es durch die Finger der Wiener Philharmoniker.
Die Abteilung geformt aus Rainer Honeck, Christoph Koncz, Tobias Lea, Tilman Kühn, Sebastian Bru und Raphael Flieder ist nicht Ensemble und nicht Orchester. Aber was sie ist, ist weniger, als was sie tut: Die Instrumente berühren die Musik unfassbar vorsichtig - und doch wird nicht die kleinste Stelle sich selbst überlassen, noch weniger einem Zufall. Die Musiker vermitteln sich einander mit vielen Blicken und winzigen Gesten. Indem die engen Rollen eines Streichquartetts für sie nicht gelten und die Stimmen unter ihren Instrumenten frei aufgeteilt und ausgetauscht werden dürfen, besticht ihr Zusammenklang mit reiner Intensität. Brahms kann dadurch weniger mitreißen, als er vielleicht wollte, aber dafür viel sicherer zeigen. Die Musiker quasi sind stumme Erzäher, die ihr Werk befreien, nicht besitzen wollen. Sie beweisen die Funktion dieser Technik, als der dritte Satz die Instrumente gegeneinander richtet, ohne sie zu verwirren. „Ein Thema aus dem ersten Satz spielt auf eine Jugendliebe des Komponisten an“, interpretiert das Programmheft eindringlich, aber für die Philharmoniker spielt das keine Rolle.
In George Enescus Oktett für Streicher C-Dur op.7 ist einiges los. Im Jahr 1900 schreibt es der 19-Jährige als erstes eigenständiges Werk. Wie seine Zeit ist es eine Schnittstelle von kleinen und großen Formen, von Aufruhr Ruhe, von Linie und Bruch. Kein Satz endet in der Tonart, in der er beginnt, und doch wird das anfängliche C-Dur am Ende wieder erreicht.
Der Musikergruppierung fügen sich Benjamin Morrison und Adela Frăsineanu an – und gehen nahtlos in ihr auf. Am gemeinsamen Stil ändert sich dadurch nichts: Sie beginnen leise, das Publikum muss dem ersten Ton entgegenkommen und einem anderen entkommen. Die Philharmoniker trauen sich, Noten weit zu dehnen und einander feine Fäden weiterzureichen. „Kein Ingenieur, der seine erste Hängebrücke konstruiert, kann mehr gelitten haben als ich, während ich allmählich mein Manuskript mit Noten füllte“, erinnert sich Enescu an sein Stück.
Das Ensemble wirft dabei alles von der Musik ab, was von ihr abzuwerfen ist und übergießt sie nicht mit Inszenierung: Das Oktett aus Wiener Philharmonikern kann sich frei entfalten, in der anfänglichen Wildheit, mit seinem innigen Lentement des WErks und seinem, Schuberts Streichquintett zitierenden Schluss, der kopflastig beinahe über den Rand rudert.