Der Sowjetmensch der Stalin-Zeit
FESTSPIELE / BR-SYMPHONIEORCHESTER (1)
03/08/19 Beethoven ist kein Schostakowitsch – und Schostakowitsch kein Beethoven. Und so kann, an einem Abend, auf dem gleichen Podium (Freitag, 2.8., im Großen Festspielhaus) Musik recht unterschiedlich ausfallen: wenn die für den einen goldrichtige Interpreten sich als voll daneben für den anderen erweisen.
Von Reinhard Kriechbaum
Haken wir Beethoven gleich mal ab. Yannick Nézet-Séguin hat das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das dieser Tage zwei Mal in Salzburg zu Gast ist, mit sportivem Gestus durch Beethovens Zweite gefeuert. Ein „crasses Ungeheuer“ hat ein Rezensent der Beethoven-Zeit in dem Werk gesehen, und es gibt tatsächlich mehr als genug Auffälligkeiten in dieser Partitur, die herausgezeichnet werden und heutigen Hörern tatsächlich durch ein gewisses Nachschärfen verdeutlicht werden wollen. Yannick Nézet-Séguin hatte vermutlich genau das im Sinn, ist aber – nicht zuletzt, weil er enorm an der Temposchraube gedreht hat – doch ein gutes Stück übers Ziel hinaus geschossen. Da schien von allem zuviel (nicht nur in den Ecksätzen), was die Motorik und das Akzenthafte betraf, und gleichzeitig scherte sich der Dirigent so gut wie nicht ums Klangliche. Nicht nur die Streicher des BR-Symphonieorchesters wirkten sich selbst überlassen. So klingt ein Orchester, wenn es vollständig auf den Do-it-yourself-Modus heruntergefahren wird.
Zu Dmitri Schostakowitsch, zu dessen Fünfter Symphonie d-Moll op. 47, hat Yannick Nézet-Séguin einen entschieden besseren Zugang. Die Fünfte ist eines jener Werke, denen dramatische Repressalien der Kunst-Zensoren gegen den Komponisten zuvor gingen. Mit dieser Symphonie hat Schostakowitsch zwei Klappen geschlagen: Nach außen hin eine musikalische Sprache, die dem gewünschten realen Kunst-Sozialismus entspricht und seine Kritiker zufrieden stellte; in Wirklichkeit ein intensives Stück Programmmusik, in dem mit karikierenden Mitteln gezeigt wird, wie das Individuum in der Stalin-Ära geknechtet, zur Anpassung gezwungen wird. Das wirkt wie tönender Charlie Hebdo im Jahr 1937, eine ihre Absichten nur wenig verklausulierende Karikatur-Kunst.
Aber die Fünfte ist nicht nur Grimasse. Vor allem der dritte, auch der vierte Satz enthalten intensive Klagegesänge. Diese bedrückenden, von namenloser Trauer durchzogenen Lyrismen hat Yannick Nézet-Séguin mit hoher Überzeugungskraft nachgestaltet. Ein Sowjetleben zwischen trotzigem Aufbegehren und um sich greifender Verzweiflung, nur vage keimende Zuversicht angesichts der mächtigen Blech-Fugen, der wütenden Vernichtungsschläge der akustischen Übermacht, reich an Zerrbildern: Da erwies sich Yannick Nézet-Séguin als ein gut vermittelnder Dramaturg.