Jammern auf hohen Nivau
FESTSPIELE / PHILIPPE HERREWEGHE
24/07/19 Das Collegium Vocale Gent stellte in der Kollegienkirche seine ganze stupende Klangkultur als Solisten-Ensemble acapella in den Dienst der Lamentationen von Palestrina und da Victoria. In großer Chor-Besetzung trat man auf für die e-Moll Messe von Anton Bruckner. Die Bläser des Orchestre des Champs-Élysées betörten mit romantischen Sound und moderner Phrasierung.
Von Heidemarie Klabacher
Delikate Häppchen können bekömmlicher sein, als das vielgängige Menue. Das kann – man wagt es kaum zu denken – auch für Musik gelten. Das Officium Hebdomadae Sancte von Tomás Luis de Victoria stand (in der Lesart von Jordi Savall und den Seinen) voriges Jahr in beinah enzyklopädischer Vollständigkeit auf dem Programm der Ouverture spirituelle. Hinter dem feierlichen lateinischen Titel verbirgt sich die vollständige Vertonung aller einstmals in der Karwoche gesungenen Texte. Und das sind viele von Palm- bis Ostersonntag. Im Konzert, fern vom eigentlichen „Sitz“ dieser Musik in der Liturgie, ist das eine so anregende wie anstrengende Angelegenheit. Zumal die ganz auf den Text ausgerichtete Vertonung (im Wechsel mit Versen im einstimmigen Gregorianischen Choral) mehr auf Textverständlichkeit denn auf kompositorisches Raffinement setzt.
Am Dienstag (23.7.) sang das Collegium Vocale Gent diesmal „nur“ das Miserere Dei sowie drei Lamentationen für den Karsamstag – und hat mit diesen kostbaren Momenten die Ohren nur so gekitzelt: So viel klangliche Brillanz, Homogenität und inhaltliche Intensität schenkten die Vokalsolisten den bewegenden Klageliedern. Besonders interessant war die direkte Vergleichsmöglichkeit mit Palestrina, der die Lamentationes gleich in vier Zyklen vertont hat. In der Kollegenkirche erklang die (kurze) Lectio aus den Lamentationes Hieremiae Prophetae von 1588 für den Karfreitag – eine deutlich komplexere, üppigere Vertonung.
1525 wurde Palestrina geboren, 1548 da Victoria – und 1824 Anton Bruckner. Dieser hat die erste Fassung seiner Messe Nr. 2 e-Moll für gemischten Chor und Bläser WAB 27 1869 als Auftragswerk zur Weihe der ersten fertigen Bauteile des Linzer Marien-Doms geschrieben. 2019 zu Salzburg gespielt wurde allerdingst die erst 1885, ebenfalls in Linz, uraufgeführte zweite Fassung: Farbenreiche Musik, die sich von Palestrina bis Wagner durch die Musikgeschichte zitiert und doch ihren unvergleichlichen Ausdruck besitzt. Trotzdem präferiert die Rezensentin die Urfassung. Die souveräne Interpretation unter der Leitung von Philippe Herreweghe ließ natürlich keine Wünsche an Transparenz im Chorklang oder Facettenreichtum im oft geradezu opernhaften Bläsersatz offen. Wie grandios das Collegium Vocale Gent auch in großer Chorbesetzung ist, zeigte sich dennoch erst so richtig bei der Zugabe, Bruckners unbegleitetem Ave Maria. Gerne hätte man die Messe für weitere Motetten eingetauscht.
Bild: dpk-klaba