Berührende Klagemusiken
FESTSPIELE / BR CHOR / OENM
22/07/19 Arvo Pärt, rüstige 84 Jahre alt, nimmt den begeisterten Beifall für sein Miserere persönlich entgegen - und lauscht, sichtlich gerührt, einer Zugabe: Howard Arman und der Chor des Bayerischen Rundfunks lassen ein wundersam wiegendes estnisches Lied aus seiner Feder erklingen. Ein bewegender Moment am Sonntag (21.7.) im Großen Saal.
Von Gottfried Franz Kasparek
Ein eindrücklicher Abend ist das, ganz dem Thema der Ouvertüre Spirituelle verpflichtet: „Lacrimae“. Vor der Pause erklingt Arvo Pärts meditativ schwebendes, bei aller Einfachheit der Textur in vielen Klangfarben schillerndes Magnificat für gemischten Chor a cappella, gefolgt von einem weiteren Beispiel spiritueller Musik sowjetischer Komponisten. Alfred Schnittke, 1984 noch nicht emigriert, hat Drei geistliche Gesänge für einen befreundeten Dirigenten angeblich in einer Nacht geschrieben. In der Tat holzschnittartige, von tiefem Glauben durchpulste Musik ist dies. Arman und sein Chor interpretieren den strengen Gegrüßet seist Du, Maria-Kanon, die verinnerlichte Bogenform bei Herr Jesus, Sohn Gottes und das Vater unser-Largo untadelig sowie mit Würde und Inbrunst.
Danach hat der Organist Alexander Bauer mehr zu tun, ebenso wie hier die zu Pärts Miserere dazu kommende Abordnung des OENM, bestehend aus sechs Bläsern, drei Schlagzeugern, E-Gitarre und E-Bass, zum Einsatz kommt. Das bereits im Exil für das Hilliard Ensemble geschriebene Stück ist typisch für die asketische, gleichsam mönchische, tief und ernst gefasste, mit wenigen Tönen anrührende Stimmung erzeugende Musik des großen estnischen Klangmystikers. Ja, dieses verhalten, aber desto stimmiger klagende Gebet zählt zu seinen konzentriertesten Werken.
Der Countertenor und die Klarinette beginnen „mit dem Ton der nackten menschlichen Existenz“ eine rituelle Handlung, gipfelnd in einem mächtigen Dies irae-Chorkanon, verklingend in zarten Glockentönen. Instrumental- und Vokalensemble sind werkdienlich und merkbar Anteil nehmend zu Gange, geleitet vom perfekten Chor-Kapellmeister Howard Arman. Die Solopartien sind aus dem Chor besetzt – schöne Stimmen, in der Gruppe natürlich besonders homogen.
Nach der Pause stehen nur mehr ein Klavier und ein Notenpult auf der Bühne. Es ist eine der recht seltenen Gelegenheiten, dem charismatischen Pianisten Markus Hinterhäuser zu begegnen. Er spielt nicht nur das Stück, er empfindet jeden Ton nach. Genau so verhält es sich beim Bratscher Antoine Tamestit. Das Stück ist ein Solitär: die Violasonate des Dmitri Schostakowitsch, das letzte Werk eines Gepeinigten, ein wahres Requiem für zwei Instrumente. Im Rückblick auf die Sonate für zwei Klaviere von 1922 und ein Opernfragment entstand 1975 ein zutiefst bewegendes Monument eines Abschieds, der ins Nichts führt.
Denn Schostakowitsch war Atheist. Und dennoch schwingt in der trauernden Kantilene leise Spiritualität mit. Danach kann man keine Zugabe spielen. Danach sollte man ein paar Minuten schweigen und still weggehen. Da dies im Konzertleben schwierig ist, steigert sich der Applaus zu großem Jubel. Die Interpreten haben ihn verdient – und es hat auch etwas mit Befreiung zu tun.