Die Selfies früherer Zeiten
FESTSPIELE / LIEDERABEND BOESCH/MARTINEAU
21/08/18 Ein Liederabend im Großen Saal des Mozarteums. Ein gewaltiges Pensum – Schubert, Mahler, Krenek. Des letzteren „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“ verblüfft in seiner Aktualität und begeistert in der nuancierten Gestaltung von Florian Boesch und Malcolm Martineau.
Von Gottfried Franz Kasparek
Aus der Hitze des Tages geht es in die unterkühlte Atmosphäre des Saals. Am Beginn scheint der Bariton Florian Boesch noch auf der Suche nach seiner Stimme zu sein. Franz Schubert, das große Vorbild Kreneks, wird mit drei Gesängen dramaturgisch klug gewürdigt, aber der Sänger bevorzugt einen allzu lockeren Erzählton. „Der Wanderer“ nach Schlegel, „Der Wanderer an den Mond“ nach Seidl und das Goethe-Lied „An den Mond“ erklingen im freundlichen, etwas nasalen Biedermeier-Tonfall, leise und ein wenig beiläufig. Doch bei Gustav Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“ wandelt sich das Bild. Boesch, vielleicht nicht in seiner besten Form, verwandelt sich flugs in einen expressiven Gestalter, macht die Gesänge zu einem packenden Monodrama unerfüllter Liebe, trumpft mit dramatischen Tönen auf, berührt zwischendurch mit volksliedhafter Schlichtheit. Malcolm Martineau, der mitgestaltende Partner am Flügel, setzt poetische, aber auch opernhafte Akzente.
Nach der Pause wird es ereignishaft. Ernst Krenek, der vielseitige Nachfahre Mahlers und Schönbergs, unternahm 1929 eine Sommerreise durch seine Heimat. Und schrieb einen Text, der heute wie damals gültig ist, in seinen Beschwörungen der vom Massentourismus bedrohten Schönheit der Natur, in seiner Warnung vor polarisierender, einen „blutigen Hanswurst“ manifestierenden Politik. Von der „unsäglichen Banalität“ touristischer Events ist da die Rede, von Menschen, die sich photographieren „und dahinter auch wohl einen Berg“ und nichts sehen, „weil sie Ansichtskarten schreiben müssen“. Eine Vision von Selfie- und SMS-Unkultur, erheiternd und erschreckend zugleich. In tonale Töne gesetzt, genial gemischt aus kabarettistischem Couplet-Ton und betörender Melodik, gewürzt mit scharfen Dissonanzen. Dazwischen gibt es wienerische Weinseligkeit, geruhsame Regentage und Sehnsucht nach dem Süden, denn „über den Bergen liegt Welschland“. Am Ende steht eine kunstvoll verarbeitete Zwölftonreihe und – „mich wundert’s trotzdem nicht, dass ich trotzdem fröhlich bin“: Die alte österreichische Malaise. Oder Stärke, wie man will. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist?“
Dieser singuläre Liederzyklus war schon nach 1945 mit dem legendären Tenor Julius Patzak ein breiter Publikumserfolg und ist es jetzt dank einiger bedeutender Liedsänger, die ihn neu entdeckt haben, endlich wieder. Dazu gehört zweifellos Florian Boesch. Mit exakter Artikulation, fast immer textdeutlich, mit den vielen Farben eines lyrisch grundierten Baritons, der mittlerweile in „Wozzeck“-Regionen gelandet ist und einen starken Zug ins Dramatische hören lässt, vor allem mit ebenso musikalischer wie durchdachter Ausdruckskraft entsteht eine zeitlose Reise durch die nicht nur österreichische Welt einer nicht nur an den Abgründen der Alpen taumelnden Gesellschaft.
Malcolm Martineau erzeugt im besten Einverständnis mit dem Sänger einen pointenreich oszillierenden, zwischen sensibler Lyrik und schneidendem Metallklang ausgewogenen Klaviersatz.
Jubel war beider Künstler Lohn. Keine Zugabe, wozu auch? Wie heißt es in Kreneks Gewitterlied: „Wetter komm’ und reinige uns von Dummheit, Bosheit und schleichender Gemeinheit!“