Erweiterter Suizid mit Beethoven
FESTSPIELE / CURRENTZIS / BEETHOVEN ZYKLUS
16/08/18 Wie viele Musiker verlangt ein vollendetes Pianissimo? Ziemlich viele. Die tiefen Streicher von musicAeterna of Perm Opera füllten, bei mustergültig nicht-hustendem und nur lautlos handy-spielendem Publikum, mit den ersten Tönen der „Freudenmelodie“ die Felsenreitschule mit purer Energie. Teodor Currentzis eröffnete seinen Beethoven-Zyklus mit der „Neunten“ in der Felsenreitschule.
Von Heidemarie Klabacher
Zerrissen, radikal, von innerer und äußerer Verletzung erzählend, knallte Teodor Currentzis seinem verblüfften Publikum einen Abend lang die vielen rezitativischen Momente der „Neunten“ um die Ohren. So auch die Einleitung zum Finale, die mehrere Anläufe nehmen muss, bevor der Jubel „freudig, wie ein Held zum Siegen“ zum Ausbruch kommen durfte. Es war freilich ein Jubel, der selbst im Triumpf noch die atemberaubende Stille jenes an der Grenze zur Hörbarkeit zelebrierten Streicher-Pianissimo in sich trug. Der „Herr“ kommt bekanntlich nicht in Sturm und Erdbeben, sondern im Säuseln. Dass dies auch für eine Interpretation von Teodor Currentzis gilt, überraschte aber doch.
Dem Solistenquartett – grandios kontrolliert und textdeutlich Janai Brugger, Elisabeth Kulman, Sebastian Kohlhepp und Michael Nagy – weitete der Rabauke am Pult das Sternenzelt zum Raum überirdischer Ruhe. Da gab es noch wirklich nie gehörte Decrescendi zu bestaunen. Leise singen bei Beethoven? Geht wohl nur, wenn es vorher so richtig kracht
Der wilde griechisch-russische Bursche mit den roten Schuhbändern bestreitet in diesem Festspielsommer mit seinem Orchester musicAeterna of Perm Opera einen kompletten Zyklus aller Beethoven Sinfonien. Eröffnet wurde in der Felsenreitschule mit der „Neunten“. Weiter geht es im Großen Saal des Mozarteums.
Zur „Ode An die Freude“ vereinigten sich geschwisterlich musicAeterna Chor der Oper Perm und Salzburger Bachchor, betörten bilateral mit ihren Pianissimi „überm Sternenzelt“, verführten in perfekter Propaganda zur „Brüderlichkeit“. Und wer’s nicht gekonnt? Der stehle weinend sich aus diesem Bund. Musik war schon immer eine gefährliche Sache.
Wie gefährlich, das zeigte Currentzis, in dem er die geruhsam atmenden, weit aussingenden Momente, besonders der grandiosen Holzbläser, in umso schroffere kontrastierende Abgründe stürzen ließ. Im Scherzo fuhr er Orchester und Publikum in einem schrillen Spielmannszug wie ein Rattenfänger im Rennwagen gegen die Wand. Gelegentlich hat der dirigentische Rennfahrer die Kontrolle verloren, aber doch immer wieder die Kurve gekratzt. Mit dröhnendem Kopf begaben sich gut 1600 Leute in den dritten Satz, in dieses Nirvana der Harmonielehre, diesen wiegenden Wechselgesang zwischen Streichern und Bläsern, mit dem Currentzis überzeugend eine Ahnung von Frieden erweckte. Ein überwältigender verrückt-genialer Auftakt. Weiter geht es im Großen Saal des Mozarteums. Unter dem Klirren der Kristall-Luster und dem Rieseln von Stukk? Hat der Denkmalschutz einen Currentzis-Notfallsplan?
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli