Überschwängliche „Todtenfeier“
FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / NELSONS
29/07/18 Schon nach zwanzig Minuten war Pause. Der wohl weltbeste Trompetist Hakan Hardenberger hatte sich sichtlich verausgabt in der „Ouvertüre“ zu Gustav Mahlers weit ausladender „Auferstehungssinfonie“. Hochprozent-Dirigent Andris Nelsons hatte seinem Starvirtuosen alle Zeit der Welt gelassen – um dann, bei Mahler, ebenso wenig mit Zeit zu geizen. Für eine überschwängliche „Todtenfeier“.
Von Hans Gärtner
Am Ende des ersten konzertanten Wiener Philharmoniker-Auftritts der Salzburger Festspiele 2018 waren alle Beteiligten auf der Bühne des Großen Festspielhauses der rückhaltlos geäußerten Gunst des höchst affizierten Publikums sicher.
Was heißt „schon …“ nach 20 Minuten Pause? Andere Dirigenten sind mit Bernd Alois Zimmermanns relativ bekanntem, affektgeladen-kühnem Konzert für Trompete und Orchester „Nobody knows de trouble I see“ bereits nach einer kleinen Viertelstunde fertig. Das 1955 uraufgeführte, fulminant pointierte Werk des 1970 mit nur 52 Jahren freiwillig aus dem Leben geschiedenen Schöpfers der Oper „Soldaten“ breitete Andris Nelsons, seit kurzem Gewandhausorchester-Chef, in einer Weise aus, die den Gehalt des kurzen Stücks nur umso deutlicher exponierte: als virtuos gebotene spezielle humanistische Botschaft an die Zuhörerschaft mit Mitteln des spirituell hymnischen konzertanten Jazz.
Wer das Glück hatte, Andris Nelsons, 39 Jahre jung, Vollbartträger seit neuestem und seit langem global bewunderter Pult-Star von kleiner Geste und großer Herzenskraft, beim Dirigieren von Mahlers Symphonie Nr. 2 c-Moll aus der Nähe beobachten zu können, kann es vielleicht erklären, warum es diesem durchgehend heiter Orchester-Befehlenden und den ausdauernd für „ihren“ Mahler eintretenden Wienern so mühelos gelang, ein Konzert von überzeitlicher Tragweite hinzulegen.
Denn gerade dieser wohl charakterbedingten Zuversicht, die von Nelsons ausgeht, könnte das makellose Gelingen dieser Aufführung zuzuschreiben sein, die die Frage nach einem paradiesischen Tod-Folge-Reich vehement aufwirft. So ein halsbrecherisch instrumentiertes, mit gemischter Hunderterschaft (sagenhaft in Ausdruck und Präsentationsgeschmack im Sitzen pianissimo singend: der von Howard Arman einstudierte Chor des Bayerischen Rundfunks) und zwei sehr guten Solistinnen (allürenloser Alt: Ekaterina Gubanova, feiner Sopran: Lucy Crowne) auf die Beine zu stellendes Klang-Opus kann nur in glückvoller Kooperation einer Crew exzellenter Vokal- und Instrumentalkönner gelingen.
Andris Nelsons vollbrachte ein Wunder an Amalgamierung von Präzision und Überschwang, Schlichtheit und klanglicher Ausuferung, gezügelter Stringenz und freischwebender Dynamik. Abschattierungen resp. Hervorhebungen des bedrohlichen Fagotts, der jubilierenden Piccolo-Flöte, der massiven Hörner-Riege – alles keine Frage nur des musikalischen Moment-Geschehens, sondern immer auch des maßvollen, aber stets geistdirigentischen Kalküls. So etwas kann dieser bravouröse Lette aus dem Ärmel. Und bleibt dabei gelassen und in einer Balance des Unaufgeregten und liebevoll Zugewandten, die eigentlich erst einem Kollegen gesetzteren Lebensalters abverlangt wird.
Ob dieses „Philharmonische“, das das Ende der „Ouvertüre spirituelle“ der Festspiele markierte, wohl noch zu toppen ist? Diese Mahler-Sternstunde der Bejahung des Todes, weil des menschlichen Aufgehobenseins in Gottes Schoß geht jedenfalls in deren Chronik ein.