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Den Machthabern die Zunge zeigen

FESTSPIELE / BERLINER PHILHARMONIKER / RATTLE (2)

29/08/17 Der Soloflöte und der Celesta gehören die ersten Töne, keck greifen Fagott und Trompete die motorisch-angriffslustige Melodie auf, die nach einigem Hin und Her unvermutet in die wie parodistisch hereinplatzende Gassenhauer-Melodie aus Rossinis „Wilhelm Tell“-Ouvertüre mündet: Die „Fünfzehnte“ von Schostakowitsch.

Von Reinhard Kriechbaum

Wilhelm Tell ist auf die Abschussliste gekommen, weil er Gesslers Hut den Salut verweigerte. Schostakowitsch haben die rigorosen Kunst-Wächter in der Stalin-Ära das Komponistenleben zur Hölle gemacht. Das Musik-Zitat ist also autobiographisch zu greifen. Nicht, dass Schostakowitsch immer achtlos vorbeigegangen wäre an den zum Gruß aufgehängten Hüten. Er musste auch öffentlich seiner als „formalistisch“ gebrandmarkten Kunst abschwören. Aber zumindest aus dem musikalischen Hinterhalt heraus ist Schostakowitsch dann immer wieder mit erhobenem Kopf vorbeigezogen an den aufgestellten Insignien der Potentaten, so wie Wilhelm Tell am legendären Hut.

In seiner letzten Symphonie, 1972 in einem deutlich entspannteren Moskauer Klima uraufgeführt, ist diese Anspielung beileibe nicht die einzige Erinnerung an die bedrängte Freiheit der Kunst. Auch im letzten Satz sieht man den Komponisten förmlich die Zunge herausstrecken: Da hebt ja das schwere Blech mit einem Wagner-Zitat an, aber die Sache kippt in ein Tändeln und Tänzeln, als ob die Dämmerung der falschen Götter schon Realität wäre. War sie damals, in den frühen 1970er Jahren unter Breschnew, zwar noch nicht wirklich, aber feinfühlige Künstler sind bekanntlich ihrer Zeit nicht selten voraus.

Die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle sind genau die Richtigen, um die Ironie, den blanken Hohn heraus zu bringen, wie er in den Ecksätzen dieses symphonischen Schwanengesangs zutage tritt. Und generell ist dieses Orchester mit seinen schneidigen Holz- und Blechbläsern, die alles immer ein wenig direkter über die Rampe bringen und frontaler platzieren, für Schostakowitsch goldrichtig. Sogar für den zweiten Satz, diese eindrückliche Marcia funebre, in dem Blechbläserchoräle mit dem Solocello wetteifern im Ausdruck namenlosen Jammers (auch das: autobiographische Entäußerung des Komponisten). Aber die überzeugenderen Töne dieser Interpretation waren die deftigen. Nicht zuletzt der Ausklang mit Stabspielen und Holzgeklapper, der sich ausnimmt wie ein Danse macabre, gekreuzt mit dem Überlebenswillen eines Till Eulenspiegel.

Der letzten Symphonie (die übrigens in diesem Festspielsommer eine Woche zuvor auch in Kammerbesetzung programmiert war) hat Sir Simon Rattle die erste Symphonie vorangestellt. Die Zunge hat auch der 19jährige Schostakowitsch rasch heraußen. Damals ging es noch nicht um unmittelbare politische Pression, sondern darum, sich abzusetzen von der russischen Symphonik bis dato – ohne ihr ganz abzuschwören. Man muss sich das Umfeld ausmalen: Glasunow war Konservatoriumsdirektor und ein Schwiegersohn von Rimski-Korsakow der Komponierprofessor von Schostakowitsch. Eigentlich erstaunlich, dass im Moskau bald nach der bolschewistischen Revolution aufmerksame Ohren offenbar in Menge da waren. Der Symphonie-Erstling und sein Schöpfer, der sich als Stummfilm-Pianist über Wasser gehalten hatte, wurden damals heftig akklamiert. Auch das gutes Material für Rattle und die Seinen.

Das also war die letzte „Zeit mit Schostakowitsch“ – jener Zyklus, der  bei den Festspielen ungefähr zwei Drittel so viele Besucher verzeichnet hat wie die „Jedermann“-Aufführungen, wie man jüngst erfuhr. Das ist zwar ein statistisches Kraut- und Rüben-Ergebnis (es wurden die Opern-Besucher von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit jenen der Orchester-, Kammer- und Solistenkonzerte, in denen Musik von Schostakowitsch programmiert war, addiert, so kommt man auf über 24.000 Leute). Aber es zeigt: Es braucht keine „gefälligen“ Programme, um im sommerlichen Salzburg die Säle zu füllen.

Der Montagabend (28.8.) markierte auch einen Abschied, denn zumindest als Chef des Berliner Orchesters (seit 2002) wird Sir Simon Rattle künftig nicht mehr am Pult stehen. Zwei Konzerte am Festspielende mit ihm und den Berlinern – das gehörte für anderthalb Jahrzehnte zu den Fixpunkten im Festspielsommer.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

 

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