Die Liebe frisst ihre Frauen
FESTSPIELE / PERNERINSEL / LULU
18/08/17 Nomalerweise stachelt heftige Ablehnung die Wohlmeinenden zu umso kräftigeren Bravo-Rufen an. Anders auf der Halleiner Perner-Insel, wo als letzte Schauspielpremiere dieses Sommers Frank Wedekinds „Lulu“ ihrem letalen Ende entgegen geht: Nur flauer Beifall und ein überrumpelndes Buh-Konzert für Regisseurin Athina Rachel Tsangari. Fazit: bildwirksam durchgefallen.
Von Reinhard Kriechbaum
Wie es schien, kamen die Buhrufe mehrheitlich aus jungen, weiblichen Kehlen, und damit hat's schon seine Richtigkeit: Feministinnen werden in dieser Aufführung schwerlich ausreichend Argumente für ihre Anliegen sammeln können. Aber es kommen schon die Männer auch gebührend schlecht weg.
Von der Bühnengröße hat sich die Griechin jedenfalls nicht klein kriegen lassen, und auch nicht davon, dass sie nicht Deutsch spricht. Filmemacher sind von Natur aus Team- und Netzwerker. Und so hat Athina Rachel Tsangari auch ganz stark auf Video, sogar auf gezeichnete Animation gesetzt. Ein starker visueller Effekt ist etwa, wenn auf die vielen großen Ballone, die die Bühne (Florian Lösche), vollständig bedecken, riesige Augen projiziert werden. Da wird die „Monstretragödie“ bildhaft gemacht. Ein „Monster“, das uns, das Publikum, ins Visier nimmt – so wie die Männer Lulu, die in der ersten Szene als ein tierhaftes, amorphes Wesen unter einem Tuch sich bewegt, mit sechs Armen und sechs Beinen. Wie absurd, wenn der Ehemann Goll, der Gönner Schöning und der Maler Schwarz gerade zu diesem bildhaft gemachten „wilden Tier“ die Schönheit einer jungen Frau beschreiben.
Diese junge Frau hat auch drei Münder und Haarschöpfe, denn Lulu sind in dieser Aufführung ihrer drei: Anna Drexler, Isolda Dychauk, Ariane Labed. Manchmal sprechen sie im Chor, öfter wechseln sie einander ab in den Dialogen. Jedenfalls hat es jeder der Männer, die sich wie Maulwürfe aus dem Bühnenboden herauf bohren und auch wieder in diesem verschwinden, immer mit allen Dreien zu tun. Die drei Lulus sind gemeinsam stark und sie werden gemeinsam schwach. Eine Herausforderung für jeden Mann wie für sich selbst.
Projizierte Frauen-Bilder aus Männerperspektive oder eine Dreier-Ich-AG mit den profitablen Mitteln eines gezielt eingesetzten Eros? Die nahe liegende Möglichkeit, die drei Frauen in ihren Rollenbildern zu differenzieren, hat die Regisseurin nicht genutzt. Die drei Lulus haben immer dasselbe an, und sie wechseln ihre Haartracht von Blondmähne auf dunklen Pagenschnitt. Stereotype, Klischees oder, wenn man es positiv sehen will: Archetypen. Warum eigentlich nur ein Klischee, ein Archetyp, wenn man schon drei Darstellerinnen einsetzt? Mag sein, dass der Publikumsgrimm sich deshalb so aufgestaut hat, weil die Regisseurin auch beharrlich Interpretation im Sinn präziser Geschlechter-Festschreibung verweigert. Mit Täter- und Opferrollen hält es Athina Rachel Tsangari nicht so genau, da bleibt viel offen.
Wenn sich die Ballone heben, ist die Spielfläche jedenfalls leer, immens viel Raum für ein Kammerspiel mit wechselnden Kräften. Lulu bleibt immer distanziert gegenüber den Männern. Dr. Schöning hat es in einer Szene gar mit Lulus in Transparent-Kugeln zu tun. Er kann die Kugeln herumrollen, ohne dem „Objekt“ Frau näher zu kommen. Erst Schigolch wird die Lulus da heraus holen, und das ist gar nicht gut für sie. Gelegentlich werden sie zu Plüsch-Gewändern greifen, die sie wie Kokons umgeben und doch nicht schützen.
Die Choreographie, das Bewegungstheater sind der Regisseurin wichtig. Und sie pflegt den Slapstick. Im Programm äußert sie sich dazu in dem Sinn, dass „Lulu“ eine Art Ur-Screwball Comedy sei. Da setzt sie voll und ganz auf die Schauspieler-Gruppe. Rainer Bock als Schigolch mit Intellektuellen-Miene, Steven Scharf als herablassender, aalglatt bis boshaft argumentierender Dr. Schöning, das sind die ernsthafteren Typen. Christian Friedel (Alwa), Benny Claessens (Rodrigo) und Maik Solbach (Schwarz/Casti-Piani) stehen fürs frontal Karikierende. Die Dialoge sind durchwegs auf Rasanz getrimmt, der so entstehende Humor wirkt gallig.
Der Paris-Akt: Dort pulsiert die Tanzmusik und die Szene wird flugs in einen makabren Walzer verwandelt. Beim Paartanz mit wechselnden Partnerinnen bringen die Männer ihre Erpressungsversuche an. Das hat durchaus filmische Anmutung.
Eigenartig dann der London-Akt: Die Geschwitz (Fritzi Haberlandt) steht da wie eine Allegorie der aufrichtigen Liebe, während Lulu plötzlich ihre Trinität aufgibt. Da ist offenbar eine zu viel, Lulu drei wird im Bühnenhintergrund abgestellt. Das sieht nach Verlegenheitslösung aus. Die zweite Lulu schlüpft in die Rolle des Freiers und des Jack the Ripper. Die Geschwitz mischt sich gestikulierend auch noch ein in die Zweier-Figurengruppe. Schließlich fällt in einem finalen Liebesakt Lulu zwei (da als Jack the Ripper) über Lulu eins her. Kein Mord, sondern Zerstörung aus dem Inneren: Die Liebe frisst ihre Frauen. Die Geschwitz hat das Nachsehen.
Der episodenhafte Zugang entspricht der lose geknüpften Szenenfolge Weedekinds (man griff auf die erste Fassung von 1894 zurück).
Alles in allem wirkt diese Inszenierung dann doch zu sehr vom Bild her gedacht – aber gerade die Bild-Magie, zu der neben reichlich Video (dafür ist die Regisseurin selbst zuständig) und gelegentlicher Animation (Renee Zhan) auch eine höchst raffinierte Lichtgestaltung (Reinhard Traub) gehört, wirkt manchmal gerade so, als ob sich Athina Rachel Tsangari dahinter verstecken will. Und sie versteckt auch eigene Interpretation hinter den durchwegs charismatischen schauspielerischen Impulsen. Was will sie uns wohl wirklich erzählen in den zwei Stunden (ohne Pause) über Lulu und die Männer? Kann das Artifizielle eine Deutungslinie ersparen? Das Premierenpublikum hat sein Urteil eindeutig gesprochen.