Ganz viel Zeit fürs Jenseits
FESTSPIELE / ZEIT FÜR GRISEY
25/07/17 Was für Musik darf man erwarten nach der Apoklypse? Veblüffend, wenn Gérard Griseys „Vier Gesänge, um die Schwelle zu überschreiten“ in eine sanfte Berceuse münden. Hören konnte man dies am Montag (24.7.) zu fortgeschrittener Stunde in der Kollegienkirche.
Von Reinhard Kriechbaum
Sitzfleisch braucht man an so einem Tag. Haydns „Sieben letzte Worte“ und Messiaens „Visions de l'amen“ am frühen Abend, dann ein Eintauchen in die gotische Musik-Mystik eines Johannes Ockeghem, gefolgt eben von den spektral-tonalen Endzeit-Fantasien des Gérard Grisey. Und nach diesem so ergiebigen wie strapaziösen Exkurs in die unermesslichen Weiten der Musik(geschichte) hatte sich schon wieder eine Menschenschlange vor der Kollegienkirche gebildet, kamen doch um 23.30 Uhr nochmals die Tallis Scholars, nun mit der ganz wunderbaren Marienmesse von Josquin.
Solche Konzerttage sind wahrscheinlich die schönste Bestätigung, dass Markus Hinterhäuser mit seinen fordernden Programmen goldrichtig liegt. Bis zum letzten Platz voll waren nämlich sowohl der Große Saal des Mozarteums als auch dann die Kollegienkirche. Das Publikum lässt sich spürbar gerne mitnehmen in die Ewigkeit, es lässt sich verführen vom ewigen Licht und nachdenklich machen von Jenseits-Gedanken. Was Theologen neuerdings konstatieren, eine unbremsbare Sehnsucht nach Spiritualität, lässt sich gut auch von Festspielmachern für ihre Anliegen ummünzen. Die Konzentriertheit der Hörer in den bisherigen Konzerten der Ouverture spirituelle war greifbar, der Gedanken-Nachhall, bis jeweils der Beifall (standardmäßig Jubel) aufbrandete, für Festspielverhältnisse stets über die Maßen lang. Musik in sich nachschwingen lassen und nicht gleich drauflospaschen – fast hat man vergessen, dass dass sommersüber in Salzburg noch drin ist.
Montag in der Kollegienkirche: Nach geheimnisvoll-archaischem Trommeln, von Ferne im abgedunkelten Raum (Griseys „Stèle“) waren die Tallis Scholars dran. Ockeghems Totenmesse steht nicht nur singulär als erste mehrstimmige Requiemkomposition (um 1470 wohl) in der Musikgeschichte da. Der Gregorianische Choral war, das muss man sich vergegenwärtigen, damals schon 700 Jahre alt! Und immer noch war die Frage virulent, wie man ihn mit damals neuen Mitteln ausdeuten solle. So langsam ticken die Uhren echter Spiritualität.
In der Ockeghem-Zeit war vor allem die Dreistimmigkeit gefragt, zu den Choralmelodien treten zwei oft ganz dich kanonisch geführte Stimmen, meist in gleicher enger Lage. Die drei Damen und sieben Männer unter der Leitung von Peter Phillips haben das mit rhythmischer Akkuratesse und sagenhafter innerer Ruhe übermittelt. Das Wundersame ist, dass diese grundsätzlich immens kommunikative, ausdrucksstarke Musik auch die Option zum Meditieren in sich birgt.
Ein halbes Jahrtausend und dreißig Jahre später als Ockeghem hat Gérard Grisey eigentlich Ähnliches erreicht. Man kann, muss sich aber nicht einlassen auf die durchdachte Architektur der dreivertelstündigen „Quatre chants pour franchir le seuil“, für die nun das Klangforum Wien, die famose Sopranistin Katrien Baerts und Emilio Pomárico als Dirigent aufgeboten waren. Auch da ist eine meditative Hörhaltung eine Möglichkeit.
In gefährlicher Leisheit geht Stück um Stück alles den Bach runter: Den Engel erwischt es zuerst, dann stirbt die Zivilisation, die Stimme muss dran glauben, und zuldetzt die Menschheit überhaupt. Zu diesem Textschnipsel aus dem Gilgamesch-Epos kommen die Trommeln mächtig in Fahrt. Und dann eben: urplötzlich eine klare Leisheit zwischen Geige, Cello und Kontrabass, wenn „alle Menschen plötzlich in Ton umgewandelt“ sind. Das ist nicht das Ende: Da kommt die Berceuse, sanft, beruhigend: Vor dem neu geöffneten Fenster liegt die Welt, und sie ist, so Griseys Botschaft, mehr als schön...