Lulu – das sind diesmal ihrer drei
FESTSPIELE / INTERVIEW / ATHINA RACHEL TSANGARI
13/07/17 Fantastisch und nervenaufreibend zugleich, so empfindet Athina Rachel Tsangari ihre Arbeit hier in Salzburg im Moment. Die griechische Filmemacherin inszeniert Wedekinds „Lulu“ auf der Perner-Insel. Ihre erste Theaterarbeit.
Von Anne Zeuner
Seit zweieinhalb Wochen laufen die Proben und sie freue sich über das wunderbare Ensemble, schwärmte sie beim TerrassenTalk am Freitag (13/07). Die Vorbereitungen bei Film und Theater seien aber vergleichbar. Nur habe sie das Gefühl, wenig Zeit zu haben mit dem Ensemble, in den Kern des Stückes vorzudringen. Deswegen zähle jeder Tag.
Wie sie diese Lulu, diese komplexe Figur, die einer relativ simplen Männerwelt gegenübergestellt wird, diese fast ikonische Frauenfigur auf der Bühne kreiere, will Bettina Hering, die Leiterin des Schauspiels der Salzburger Festspiele, wissen. „Es ist im Moment noch ein Prozess“, sagt Athina Rachel Tsangari. Seit Wedekind sei die Lulu in Literatur, Film und Theater in verschiedenen Erscheinungsformen aufgetreten. Oft sei sie die femme fatale, die die Männer verschlingt und sich am Ende selbst umbringt. „Ich empfinde, dass sie sowohl ein Raubtier ist als auch ein kleines Mädchen, das unbedingt von jemandem geliebt werden will“, sagt die Regisseurin. Sie nur als femme fatale darzustellen, das sei ihr zu altmodisch, zu oberflächlich, das sei nur die erste Lesart des Stückes. „Wir möchten noch tiefer gehen! Wir haben drei Lulus auf der Bühne.“
Lulu trage rein gar nichts Romantisches in sich, denn es gehe nie nur um die Liebe zwischen zwei Menschen, es sei immer ein dritter Protagonist involviert. Die Idee der drei Lulus sei ihre erste Intuition gewesen, drei sei die magische Zahl in diesem Stück, sagt Tsangari. Wie genau die drei Lulus aber auf der Bühne agieren werden, das wolle sie noch nicht verraten.
Die ersten Proben mit dem gesamten Ensemble haben sich gut angefühlt, sagt die Regisseurin. „Bedauerlicherweise musste Martin Wuttke seine Rolle aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig niederlegen“, sagt Bettina Hering. „Und glücklicherweise haben wir Steven Scharf für die Rolle des Dr. Franz Schöning gewinnen können.“ Die Regisseurin vergleicht ihre Tätigkeit gerne mit der eines Kochs. So wie es verschiedene Zutaten gibt, bringen die Schauspieler unterschiedliche Energien mit, verschiedene Stile und Hintergründe. „Am Ende führen diese heterogenen Zutaten hoffentlich zu einer interessanten Inszenierung“, sagt die Regisseurin.
Wedekinds Lulu sei eine riesige Herausforderung, sowohl für einen Regisseur als auch für die Schauspieler, sagt Bettina Hering. Was momentan Tsangaris Hürden und Freuden an dem Stück seien, möchte die Schauspielleiterin wissen. – Der Text sei wirklich sperrig und schwierig, sagt Athina Rachel Tsangari, die Figuren sehr komplex: „Ich denke Wedekind selbst wollte sie gar nicht offenlegen.“ Genau dieses Geheimnisumwitterte möchte die Regisseurin bewahren in ihrer Inszenierung. „Alle Figuren tragen etwas Depressives oder Bipolares in sich. Es geht um Begierde – aber keine der Figuren hat eine andere Begierde oder einen anderen tiefen Wunsch als den nach dem Tod und nach Selbstzerstörung.“ Sie wolle emotional eintauchen in dieses Stück, das beim ersten Lesen selbst wenig Emotionalität ausstrahlt. Man spielt die Urfassung von 1894.
Ob sie sich eher als Griechin oder als Amerikanerin fühle, und wie sich diese beiden Nationalitäten beeinflussen, fragt Bettina Hering. „Ich bin in Griechenland aufgewachsen, habe Philosophie und griechisches Theater studiert, lebe aber seit meinem 18. Lebensjahr in den USA und arbeite dort als Filmemacherin. Ich fühle mich oft als Nomadin, als ob zwei Identitäten in mir vereint sind“, sagt Athina Rachel Tsangari. Sie fühle sich dort zu Hause, wo sie arbeite. Das griechische Theater und die griechische Literatur seien eher schwer. Vielleicht sei das auch der Grund dafür, warum sie Figuren immer als Archetypen behandle: „Ich gebe gerne Statements ab und stelle gerne Fragen!“
Athina Rachel Tsangari studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Theater an der Aristotle University in Thessaloniki. Zudem absolvierte sie ein Masterstudium in Performance Studies an der New York University und ein Filmstudium an der University of Texas in Austin. Den Einstieg ins Kino fand sie durch eine Rolle in Richard Linklaters legendärem Film „Slacker“. Ihr Abschlussfilm, das Low-budget-Sciencefiction-Roadmovie „The Slow Business of Going“ (2001), wurde von der Village Voice-Kritikerumfrage 2002 zu einem der „best first films“ gewählt und gehört heute zur Filmsammlung der MoMA. 2010 feierte ihr zweiter Film „Attenberg“ im Wettbewerb der Biennale in Venedig Premiere und gewann den Coppa Volpi Award für die Hauptdarstellerin Ariane Labed. Weitere Preise auf internationalen Festivals folgten. 2015 fand ihre Buddy-Komödie „Chevalier“ auf den Filmfestivals von Locarno, Toronto und New York große Anerkennung, wurde als „Best Film“ des BFI-London Film Festivals ausgezeichnet, für den Independent Spirit Award nominiert und als griechischer Beitrag zu den Academy Awards eingeladen. Im März 2017 erhielt Athina Rachel Tsangari den Kunstpreis Berlin für Film- und Medienkunst von der Akademie der Künste.