Dr. Hohenadl liebt die Wienbibliothek
SATIRE
17/02/23 Seit er einmal an einer Führung durch das Labyrinth unter dem Wiener Rathaus teilgenommen hatte, betrachtete er den Gebäudekomplex mit neuen Augen. Früher, wenn das Rathaus in der Vorweihnachtszeit illuminiert war und aussah wie ein riesiges Märchenschloss, freute es ihn, denn außer den Architekten des Historismus waren nur noch die Besten der Wiener Zuckerbäcker mit ihren kühnen Kreationen zu derart kunstfertigen Gebilden fähig.
Von Werner Thuswaldner
Aber seit dieser Führung war ihm das Wiener Rathaus nicht mehr ganz geheuer. Unter dem Rathaus tauchte man nicht etwa gleich in die Kanalisation ein, in der während des Kalten Kriegs, wie es hieß, angeblich viele Spione unterwegs waren. Nein, die Unterwelt bestand aus Stollen mit Ziegelwänden. Angeblich verbanden sie unterirdisch mehrere öffentliche Gebäude mit dem Rathaus, darunter auch das Parlament. Zurecht fanden sich hier nur Menschen mit einem ausgeprägten Orientierungssinn. Zu denen gehörte Dr. Hohenadl nicht. Im Gegenteil, er litt unter einer seltsamen Orientierungsschwäche. Sie war genetisch bedingt, denn schon sein Vater musste gegen diesen Mangel ankämpfen. Und bei ihm als Philosophen hatte sich das Handicap geradezu fatal ausgewirkt.
Während die Gruppe in den Stollen unterwegs war, hörte er den Führer Begriffe wie „Luftbrunnen“, von „vorgewärmter Luft“ im Winter und von „vorgekühlter Luft“ im Sommer reden. Mehr und mehr spürte Dr. Hohenadl, wie ihm die Atmosphäre im Untergrund zu schaffen machte. Er konnte sich gut vorstellen, hier nie wieder herauszukommen. Wozu diese langen Stollen? Wahrscheinblich konnten hier wichtige Persönlichkeiten vom Bürgermeister abwärts bis zu Senatsräten und -rätinnen im Fall einer Bedrohung in Sicherheit gebracht werden. Vielleicht wurde hier aber auch der Staatsschatz versteckt. Im Boden war jedenfalls ein Gleis eingelassen.
Unterwegs kamen ihnen manchmal Männer entgegen, die immer zu zweit waren. Es kam auch die Kombination Mann, Frau vor. Eine Teilnehmerin der Exkursion fragte, ob dies Sicherheitsorgane seien. Der Führer klärte auf: „Nein, das sind jeweils Psychologen mit ihren Klienten. Sie trainieren hier den Kampf gegen die Klaustrophobie.“
Dr. Hohenadl hielt es nicht mehr aus, er setzte sich von der Gruppe ab und wollte nur noch an die Erdoberfläche zurückkehren. Das war aber alles andere als einfach. Auf dem Weg zurück musste er sich verirrt haben, denn plötzlich hörte er Stimmen und wäre fast der Besichtigungsgruppe wieder begegnet. Er suchte weiter, aber erfolglos. Schon bereute er es, sich von der Gruppe entfernt zu haben, bis er völlig unerwartet den Ausgang doch noch fand. Wegen der Beklemmung, die er spürte, dachte er im Moment nicht daran, einen Teil des Geldes für die Führung zurückzuverlangen, weil er ja nicht die ganze Strecke mitgemacht hatte. Das fiel ihm erst nach ein paar Tagen zu Hause ein.
An dieses Erlebnis musste Dr. Hohenadl denken, als er im Cafe Jellinek Prof. Alfred Proschek von der Wienbibliothek kennenlernte. Mit diesem gebildeten Mann führte er ein so anregendes Gespräch wie schon lange nicht mit einem gebürtigen Wiener. Ihn konnte Dr. Hohenadl darüber befragen, wie es möglich sei, sich im Untergrund des Rathauses zurechtzufinden. Prof. Proschek wusste Bescheid. Im Untergrund sei es noch verhältnismäßig einfach. Aber im übrigen Haus hätten manche Schwierigkeiten. Prof. Proschek kannte sich aus, weil ja die Wienbibliothek im Rathaus untergebracht war.
Prof. Proschek hatte eine eigene These dafür, warum die Anordnung der Verkehrswege im Rathaus so kompliziert war. Der Grund dafür sei nicht etwa mangelndes Können des Architekten gewesen, sondern volle Absicht. Im 19. Jahrhundert habe man sich noch immer vor einem weiteren möglichen Angriff der Türken gefürchtet. Der Schrecken zweier Belagerungen, 1529 die eine, 1683 die zweite, sei im Unterbewusstsein der Einwohner noch wach gewesen. Ganz besonderer Schutz für den Bürgermeister musste vorgesehen werden. Der Architekt habe ein Prinzip von den Getreidespeichern auf Java übernommen. Dort sei der Zugang zu den Lagern derart labyrinthisch und verwinkelt gestaltet, dass sich potenzielle Diebe hoffnungslos verirren mussten. Ähnlich hätten sich die Türken verirrt, hätten sie im 19. Jahrhundert den Versuch gewagt, das Wiener Rathaus einzunehmen.
Dr. Hohenadl war nicht sicher, wie ernst die Erklärung gemeint war. Jedenfalls wich Prof. Proschek mit dieser These von der überlieferten Meinung ab, wonach die Komplikationen im Inneren des Rathauses ihre Ursache in der ungewöhnlichen Vorgangsweise beim Bau gehabt hätten. Als erstes wurde nämlich nicht wie in normalen Fällen der Erdaushub in die Wege geleitet, sondern noch vor Abschluss der Planung der Lüster für den Gemeinderatssitzungssaal fertiggestellt, ein monströses Gebilde, zu dessen Reinigung die Stadt Wien ganzjährig zwei ausgebildete Artisten beschäftigte. Das riesige Gebäude musste dann um diesen Lüster herum errichtet werden – eine konstruktive Herausforderung sondergleichen.
Die Stadt war so stolz auf den Lüster, dass sie ihn vor Baubeginn noch auf zwei Weltausstellungen herzeigte. Gemeinderat konnte damals nur werden, wer zuvor ein Tropentraining absolviert hatte. Die enorme Hitze, die unter dem Lüster mit seinen 213 Glühbirnen entstand, war immer wieder Ursache für Ohnmachten während der Sitzungen und für über ein Dutzend Todesfälle.
Viele fürchteten sich vor Prof. Alfred Proschek, der oft Gast in Talkrunden war, wegen seiner Schärfe, die er in intellektuellen Disputen an den Tag legte. Einmal äußerte er, der eigentlich ein Werbeträger für Wien hätte sein sollen, den Satz: Wien ist eine Sachertorte, die sich um sich selbst dreht. Eine heftige Debatte war die Folge. Während die eine Partei ein Disziplinarverfahren verlangte, trat die andere dafür ein, den Satz für die Aufnahme in das geistige Weltkulturerbe der UNESCO anzumelden.
Dr. Hohenadl hatte über Prof. Proschek gehört, er sei derjenige, der sich am besten von allen in der Wienbibliothek auskenne. Von 95 Prozent der Bücher – viele von ihnen waren aus Platzmangel hintereinander in die Regale geschlichtet – wisse er, und nur er, den Standort. Wenn er in zwei Jahren aus Altersgründen aufhören werde, bliebe nichts anderes übrig, als etliche Bereiche der Wienbibliothek stillzulegen, zu versiegeln und für immer aufzugeben.
Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers