Wohlwollen, Versöhnung, Erinnerung
LANDESTHEATER / DIE ERFINDUNG DER DEMOKRATIE
19/11/23 Mord kommt auf der Bühne entschieden besser als eine Gerichtsverhandlung. Das ist der schlichte Grund, warum der dritte Teil von Aischylos' Orest-Trilogie, die Eumeniden, gemeinhin als eher weniger relevant und bühnentauglich eingestuft wird. Im Salzburger Landestheater heißt diese Episode nun Die Erfindung der Demokratie.
Von Reinhard Kriechbaum
„Schwierig“, sagt Pallas Athene lapidar. Sie, die Rechts-Schutzgöttin, hat unversöhnliche Parteien vor sich. Die Erinnyen sind Rachegöttinnen und fordern härteste Bestrafung von Orest, der seine Mutter getötet hat. Geht nach ihrem Naturgesetz gar nicht. Die Götter, die sich oft genug einmengen in die Aktionen der Griechenhelden, stehen für eine andere Rechtsauffassung. Schließlich hat Apoll selbst Orest zum Mord an Klytaimnestra (die ihrerseits ihren Ehemann Agamemnon auf dem Gewissen hatte) angeleitet.
Wem nun Recht geben? Pallas Athene setzt auf den denkbar größten Senat, die Bevölkerung der Stadt Athen. Heraus kommt ein Fifty-fifty-Ergebnis. Orest geht frei. Aber wie es halt so ist in einer Demokratie, geifern nun jene, die sich nicht durchgesetzt haben. Die Erinnyen wünschen Athen die Pest und anderes Verderbnis. Es bedarf gefinkelter Überredungskunst und individueller Einsicht, bis sich die Rachegöttinnen in Wohlmeinende/Eumeniden wandeln. Womit ein ziemlich reifer Standard von Demokratie hergestellt ist.
Ein zeitloses Polit-Lehrstück also, dem John von Düffel eine unaffektierte Sprachfassung ohne verkrampfte Modernisierungen oder Aktualisierungen gegeben hat. So nah an Aischylos wie an unserer Gegenwart. Wir Theaterbesucher sind als Athener gefragt und dürfen in der Pause mit Jetons abstimmen. Aber weil wir in Ur-Zeiten der Demokratie sind, ist da nichts mit Wahlgeheimnis. Das Publikum ist gebeten, sein Votum auch mit einer schwarzen oder weißen Plakette am Sakko, Kleid oder Pullover kenntlich zu machen. Für Pausen-Diskussionsstoff ist damit gesorgt.
Carl Philip von Maldeghem hat mit einer temporeichen Inszenierung dem sperrigen Stoff auf die Sprünge geholfen. Der Abend ist mit anderthalb Stunden inklusive Pause kurz und dürfte auch nicht länger sein. Maximilian Paier als Orest, noch mit Blut am weißen Hemd, ist ein Getriebener mit smarten Beschützern: Apollon (Matthias Hermann) könnte man sich gut als Yuppie-Strafverteidiger im Gerichtssaal oder als smarten Auskunftgeber in einem Untersuchungsausschuss vorstellen.
Und auch Athene (Nikola Jaritz-Rudle), jung und im eleganten weißen Hosenanzug, steht für eine neue Rechtsordnung. Die drei Erinnyen (Sarah Zaharanski, Larissa Enzi, Tina Eberhardt) sind unaffektiert gekleidet, schwarze Hosen, ein bisserl angeschmiert auf Oberarmen und in den Gesichtern. Eine nette multiple Rolle hat Georg Clementi: Im Gerichtssaal hält er die Streithansln auseinander, er erklärt die Abstimmungsmodalitäten und verkündet das Ergebnis.
Minimalausstattung auf der Bühne: drei halbhohe helle Wände. Der Altar Apolls sieht aus wie ein Lüftungsteil einer Industrieanlage. Im Orchestergraben ein paar Erdhäufen. Die zornigen Erinnyen liefern eine respektable Schlammschlacht. „Überstimmt, aber nicht gegen euch“, versucht Athene zu moderieren, aber die Erinnyen keifen und toben.
„Wohlwollen, Versöhnung, Erinnerung“ – bis diese Ideale auch in der gegnerischen Partei erreicht sind, braucht's einen Läuterungsprozess. Der Übergang vom System Rache zu geregelter, abwägender Meinungs- und Mehrheitsfindung im Jahr 458 v.Chr. war nun wirklich bahnbrechend, insofern ist der Stücktitel „Erfindung der Demokratie“ zwar wenig einladend, aber korrekt. Bei Aischylos kommt „Klytaimnestras Schatten“ vor. Die Ermordete legt logischerweise größten Wert drauf, nicht vergessen zu werden, sie mahnt im Original Sühne ein. Diese Episode ist umgedeutet, es werden einige kurze Aussagen der deutschen Gedenkkultur-Vorkämpferin Lea Rosh projiziert. Ein unaufdringlicher Bogen zum Heute. Und in Zeiten wie diesen darf in einem Stück über die Demokratie auch nicht fehlen, was uns Athene als Schlusswort mitgibt: „Bleibt wachsam!“