Gutmensch in der Welt der ausgefuchsten Schurken
LANDESTHEATER / DER NEUE MENOZA
24/09/21 Von weit her kommt er, der „cumbanische“ Prinz Tandi. In Europa will er Hochkultur und aufgeklärte Denkungsart kennenlernen. Und was muss er finden? „Wunderschöne Masken mit Niedertracht und Lastern“, heißt es in Jakob Lenz' Der neue Menoza. Dörte Lyssewski hält große Stücke auf diese Ultra-Rarität, die 190 Jahre (bis 1963) auf ihre Uraufführung hat warten müssen. Nicht ganz zu unrecht.
Von Reinhard Kriechbaum
Die Schauspielerin, die mit dem Neuen Menoza in den Kammerspielen des Landestheaters ihr Regiedebüt gibt, hat natürlich recht. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) war so etwas wie ein Prototyp der Sturm und Drang-Epoche. Was Schiller im Don Carlos forderte – „Geben sie Gedankenfreiheit!“ – das lebte Lenz ungehemmt vor. Ein radikal Unangepasster. Mit der Aufklärung – genauer gesagt: mit dem, was scheinbar aufgeklärte Zeitgenossen daraus und mit sich selbst machten – ging Lenz unbarmherzig ins Gericht. Dafür steht Der neue Menoza.
Eine hübsche Szene: Ein halbgeglehrter Baccalaureus macht dem Prinzen Tandi die Aufwartung und schwärmt von tugendhaften und edelmütigen Menschen, wie sie Gellert oder Wieland beschreiben (der literarische Horizont wirkt bedrohlich). „Wo finde ich diese Leute?“, fragt Tandi. „In den Büchern“, so der Jung-Akademiker. „Ich nehme die Leute lieber wie sie sind“, entgegnet Tandi. Das ist aber keine so gute Idee. Er wohnt ja gerade mit Herrn Biederling und Graf Camäleon unter einem Dach – nomen est omen. Was er da so alles mitbekommt! Wendehälse, Scheinheilige, ausgewachsene Schurken rundum. Die taugten damals nicht zur Werte-Diskussion und daran hat sich bis heute nichts geändert. Dieser zeitlose Aspekt springt Dörte Lyssewski an.
Das Problem: Die vom überambitionierten Autor wie mit einem Caterpillar herbeigeschaufelte Gesellschaftskritik verpufft in der handgestrickt anmutenden Handlung. Die Größe der Ideen geht mit der literarischen Kleinheit nicht und nicht zusammen. Man könnte argumentieren, dass immerhin Goethe für die Drucklegung dieses Theatertextes sorgte (gegen den Willen des Autors übrigens). Aber: Goethe war eben auch ein Großer im Fördern von Leuten, die ihm karrieremäßig nicht wirklich gefährlich werden konnten.
Dörte Lyssewski ist eine große Schauspielerin, und das merkt man ihrem Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen an. Die handwerkliche Ebene dieser Aufführung nimmt für sich ein. Da haben sich wohl alle im Ensemble etwas abschauen können. Lauter präzise durchgezeichnete Charaktere. Die dankbarste Rolle hat Axel Meinhardt als Herr von Biederling. Er ist, sagen wir mal, ein jovialer Pragmatiker im lockeren Umgang mit den moralischen Anforderungen der Gesellschaft. Eigentlich eine Identifikationsfigur. Er macht zu fast allem ein freundliches Gesicht, wogegen Graf Camäleon – Marco Dott – ein Pokerface zur Schau trägt. Wenn er die Charmebombe zündet, nimmt das bedrohliche Ausmaße an. Marco Dott steckt in einem passend grau-unauffälligen Anzug, wie überhaupt Ausstatterin Eva Musil auf ein heutiges Outfit setzt.
Das sind lauter Menschen, denen wir draußen begegnen könnten, in der echten Welt. Sogar dem Prinzen Tandi, dem Sitten-Studierer. Skye MacDonald ist dieser junge Mann. Das „Exotische“ an ihm ist nur der bodenlange Rock. Er ist ein selbsternannter Gutmensch, leicht überheblich und unirritiert selbstgewiss. Er kommt ja in eine saublöde Situation, heiratet er doch die Tochter des Herrn von Biederling. Wilhelmine – Patrizia Unger – und er gäben ein Traumpaar ab, doch es stellt sich heraus, dass sie Geschwister sind. Was tun? Der Prinz in seinem selbstauferlegten Edelmut badet in Selbstmitleid. Dabei gäbe es eine Lösung, Herr Biederling rückt mit einem Pfarrer an, der versichert, dass die Sache ob der ursprünglichen Unkenntnis der Protagonisten nicht so arg sei. Angewandte Theologie hilft gegen sittliche Redlichkeit! Aber davon will der überkorrekte Nicht-mehr-Prinz nichts wissen. Glück am Ende: Babys wurden vertauscht, auch Wilhelmine ist anderer Abstammung als vermutet. Keine Spur von Blutschande: „Mehr Balsam, göttliche Linderung!“, ruft der Prinz enthusiasmiert.
Jakob Lenz hat das Stück in Miniaturszenen gegliedert, er springt von Ort zu Ort. Dörte Lyssewsk löst das, indem sie konsequent mit Blackouts arbeitet. Zwei, drei Sätze, schon geht wieder das Licht aus. Von den drei (!) Aufführungsstunden vermeint man mindestens eine im Dunkeln zu sitzen. Des Dichters Aufsässigkeit kommt da unter die Räder, Langeweile droht. Genieblitze stehen neben Szenen, die nur dazu da sind, die Trivialhandlung einigermaßen weiter zu bringen. Eine durchwachsene Angelegenheit.
Was unbedingt zu streichen wäre: Nach dem glücklichen Ende handelt der Autor noch „Regeln für die Theater-Täuschung“ ab, sprich: Er rechnet ab mit den damals geltenden Regeln für Zeit und Raum in den geforderten fünf Akten. Das entzückt gewiss angehende Theaterwissenschafter im Prosemiarsstadium. Aber als „normales“ Publikum wirft man da endgültig die Nerven weg. Und Nerven gälte es zu bewahren: Der Horizont wird mit dem Neuen Menoza erweitert. Wo kommt eigentlich der sonderbare Titel her? Jakob Lenz replizierte mit seinem Stück auf einen Roman mit Titel Menoza. Ein Asiatischer Printz, welcher die Welt umher gezogen Christen zu suchen, Aber des Gesuchten wenig gefunden von einem gewissen Eric Pontoppidan. Es gibt also noch Schlimmeres...