Von der Moral der Elefanten
KUNSTQUARTIER / MASS FÜR MASS
19/09/21 Wien, bald nach 1600? Oder in den 1980er Jahren? Oder jetzt gerade? Gefährlich jedenfalls war's und ist's, wenn Menschen einander zu nahe kommen. Es lauer(te)n Pest, Syphilis, Aids oder Corona. Sittenwächter sind rasch zur Stelle.
Von Reinhard Kriechbaum
Kopf ab, wie es dem armen Claudio in Shakespeares Maß für Maß dräut, ist heutzutage glücklicherweise keine Option mehr. In London hat man zu Pest-Zeiten Freudenhäuser abgerissen, jetzt heißt's Lockdown. Anderes hat sich weniger geändert: Der Herzog hat Valerio mit der Wiederherstellung der Ordnung in der moralisch verlotterten Stadt Vienna beauftragt und sich dann in bester Politiker-Manier aus dem Staub gemacht. Alleweil gut, sich als Regierungschef nicht selbst die Hände mit Sitten-Reinwascherei schmutzig zu machen. Das wusste man schon zu Shakespeare-Zeiten. Der Herzog schaut sich die Sache als Klosterbruder verkleidet inkognito an, erste Reihe fußfrei.
Maß für Maß, eine Produktion des Thomas-Bernhard-Instituts der Universität Mozarteum, ist die Diplominszenierung von Joachim Gottfried Goller. Er hat Dinge gelernt, die er in der Berufspraxis der heutigen Theaterlandschaft gut wird einsetzen können. Männerrollen mit Damen zu besetzen (in dem Fall Herzog und Valerio) ist gerade groß in Mode. Bringt hier eben so wenig wie sonst meistens, stiftet aber auch keine extra erwähnenswerte Unordnung.
Aus den Elevinnen und Eleven von der Schauspielschule werden durch und durch liebenswürdige Typen geformt. An Temperament fehlt es nicht, sprechtechnisch ist Luft nach oben. Das ist schade, weil man aus der Sturm-und-Drang-Textübersetzung von Christoph Martin Wieland und heutigem Sprech eine pfiffig wirkende Mischung zusammengerührt hat. Es wird nicht um jeden Preis aktualisiert, aber Valerio argumentiert die Einschränkungen der sexuellen Freiheit vollmundig: „Wir müssen die Gesunden beschützen.“
Einfachste, stimmige und stimmungvolle Bühnenlösungen: Violett ist die vorherrschende Farbe (Anspielung auf HIV). Dem verurteilten Claudio wird die Hose runtergezogen, was vielleicht Schandzeichen sein soll und wohl auch suggeriert, dass er in Fußketten schmachtet. Seine Schwester Isabella, die sich für Claudio beim Statthalter Valerio einsetzt, erweckt dessen sexuelle Gier. Dem scheinheiligen Sittenwächter wird dann anstatt Isabella jene junge Dame zugeführt, die er als Braut hat sitzen lassen. Bezaubernd der Szenewechsel vom Gefängnis zum Garten – es werden einfach Äpfel hereingerollt, während die Braut (auch mit einem Mann besetzt) singt „You can find me waiting in the garden“. Die Musik von Veit Vergara tut das Ihre.
Und wie kommt man raus aus dem Shakespear'schen Verwirrspiel? Zuletzt werden alle in Brautkleider gesteckt, halten Text-Blätter in Händen und man steuert einem scheinbar undurchschaubaren Schlamassel zu – aber dann versammeln sich alle um einen Laptop und schauen einen Naturfilm über das (sehr sittsame!) Liebesleben der Elefanten. Sag keiner, dass man nicht aus dem Fernsehen lernen kann – und wär's eine Doku in ServusTV.