Eine für alle, alle für keine
CHROMOSOM XX / ARGE KULTUR
18/06/20 Ordnung – ob in der Schublade oder in der demokratischen Gesellschaft – sollte das Thema sein, Premiere Ende April. Stattdessen Lockdown. Das Ensemble über Berlin, Wien und Salzburg verstreut. Aus Aufräumen mit Chrososom xx wurde statt einer Bühnen- vorläufig eine Online-Produktion.
Von Heidemarie Klabacher
Der Musiker ist da, grenzt sich aber, mit viel Absperrband, deutlich ab. Absperrband wird überhaupt viel gebraucht in der Produktion Recht und Ordnung. Ein Aufräumabend mit Chromosom XX. Da hält sich jemand der Situation – draußen – gemäß an die Vorschriften. Die Situation drinnen wird für die einzig anwesende Künstlerin bald prekär. Die anderen scheinen nicht zu kommen, deren Situation jeweils daheim scheint zu eskalieren. Wenn auch nicht deutlich wird, warum. Könnte Corona, aber auch eine Invasion Außerirdischer sein. Vielleicht freut es die jungen Leute aber auch nur nicht...
Genau deswegen eskaliert irgendwann auch die Geduld der einzigen Präsenz-Schauspielerin – im Stück wie in der abgefilmten Realität im Saal der ARGEkultur: Dort hatte der Aufräumabend mit Chromosom XX am Mittwoch (17.6.) auf Youtube Premiere. Das Stück ist nun eine Woche lang im Stream zu sehen
Eine Schauspielerin und ein Musiker auf der Bühne. Die anderen machen sich per Video-Konferenz wichtig. Befehlen der einsam verbliebenen Partnerin (es haben ja auch Leute in Fernsehstationen und Redaktionen übernachtet, warum nicht auch im Theater), was sie zu tun und zu lassen hat. Selbständig denken etwa. Es ist Caroline Richards, die nun für die anderen „alles“ machen soll: Moderieren. Das Publikum bespaßen. Die Performances der Kolleginnen durchführen. Und deren Konzepte auf „Soziologisch“ erklären (wo die Englisch Native-Speakerin doch fälschlicherweise meint, noch immer mit dem Deutschen Probleme zu haben).
Es hat viel Witz und Selbstironie, wenn die jungen Kolleginnen Alexandra (Sagurna) und Lilli (Strakerjahn) in bestem Selbsthilfe-Therapeuten-Kuratoren-Sprech Plattitüden der ärgsten Sorte von sich geben. Sätze jener Japanerin, die dem dekadenten Westen Heil und Erlösung durch Kasten-Aufräumen verspricht, glaubt man auch zu erkennen. Dass irgendwann die Tonspur durchdreht, und gar nichts mehr zu verstehen ist, ist stimmig. Stimmig und bös auch die „wertschätzende“ Beurteilung einer perfekt talent-und gehaltfreien Performance mit Absperrband: „Nur vielleicht ein wenig schnell.“ Viel Witz und Ironie und durchaus scharfe Gesellschafts- und auch Kunst-Kritik!
Dennoch hätte „Die „Dramaturgie“, die als schattenhaftes Über-Ich gegen Ende zugespielt wird, und die Mechanismen des „Theaterspielens an sich“ diskutiert, schon ganz am Anfang eingreifen und vor allem in der ersten halbe Stunde (der doch beinah eineinhalb Stunden) ein wenig kürzen sollen.
Echten Suspense gibt es auch: Einer der abwesenden Mitspieler dokumentiert mittels Kopfkamera, wie er versucht, das Haus zu verlassen und in eine Art Horrorfilm-Situation hineingerät. Ob Straßenkampf oder Alien-Landung erfährt man nicht. Hoffentlich geht es Paul (Hüttinger) gut. Volker (Wahl) jedenfalls fehlt sicher nichts. Ihm fällt – in respektvollster Sebastian-Kurz-Persiflage – auf jede Frage der immer verzweifelteren Caroline (Hat das Stück eine Pause? Wie lange soll es dauern?) eine garantiert inhaltsfreie Antwort ein.
Zu diesem Zeitpunkt hat die Video-Online-Produktion in der Regie von Bernadette Heidegger Spannung und Tempo aufgenommen. Die Livemusik von Axel Müller ist mehr als Untermalung, hat reizvolle Momente zeitgenössischer elektronischer Musik. Die Ausstattung von Dagmar Lesiak, die auch für den Filmschnitt zeichnet, ist – abgesehen vom Absperrband – spartanisch. Die Kamera von Florian Reittner steht für spannende Blickwinkel, auch in der Drohnen-Aufsicht. In Summe ein ambitioniertes Projekt, in dem scharfe Ironie selbst-reflektierendes Corona- oder sonstiges Befindlichkeits-Blabla (Situation des Eingesperrt- oder Ausgesetztseins) gleich gar nicht aufkommen lässt. Wehmut und ein wenig Sorge macht das Schlussbild, ein Zitat von Heiner Müller, der vorschlägt, die Theater ein Jahr schließen, um wieder zu wissen, „Warum Theater?“. Recht und Ordnung (der Titel ist eigentlich kontraproduktiv langweilig) ist auch ein schönes Lehrstück über das Theater. Es geht nicht ohne!