Die Erde in deinen Händen
DIE STRASSE DER AMEISEN / SCHAUSPIELHAUS / ROLAND SCHIMMELPFENNIG
24/01/19 „Manchmal denke ich, man muss die Geschichte von vorne nach hinten erzählen“, lässt Roland Schimmelpfennig eine seiner Figuren sprechen. Sein Stück Die Strasse der Ameisen würde sicher in diese Richtung erzählt hoffnungsvoller klingen. Aber die Geschichte entscheidet ihre Richtung gerne selbst. Anfang und Ende sind ihr gleich.
Von Franz Jäger-Waldau
Anfang und Ende von Roland Schimmelpfennigs Drama Die Strasse der Ameisen sind tatsächlich gleich. In den ersten und letzten fünf Minuten ähneln sich die Figuren auf der Bühne und die Figuren in den Zuschauerreihen - sie schauen einfach nur. Manchmal flüstern sie. Dann schauen sie wieder. Mit dem Licht beginnt die Enttäuschung: Die Zerstreuung muss sich sammeln, die Rollen zu sich kommen, die Körper reagieren – und wieder sie selbst sein. Aber sie sind nicht nur sie selbst, die vier Figuren sind auch die Erzähler ihrer gemeinsamen Geschichte und die Stimmen des gemeinsamen Sprechens: „Sanchez. So heißen doch wir – sagte meine Mutter“, sagt die Tochter (Kristina Kahlert) neben ihrer stillen Mutter (Susanne Wende). Ihr Großvater wartet seit 42 Jahren auf ein Paket, es kommt nicht. Es kommt nicht, bis eine einzelne Schneeflocke durch den Sommerhimmel dringt, und es an diesem Tag doch endlich kommt. „Manchmal denke ich, man muss die Geschichte von vorne nach hinten erzählen“, warnt die Großmutter.
Auf der Strasse der Ameisen passieren Dinge, die anderorts nicht passieren - und das ist kein Problem. In dem Paket sind nur Werbegeschenke, doch die Mutter erlebt ihre Vergangenheit in einem Taschenkalender wieder. Die Großmutter schmeckt Köstlichkeiten auf einem leeren Löffel. Die Tochter wird von einer Perücke in den Himmel gezogen, darunter schreibt ihr Freund hochliterarische Gedichte mit seinem magischen Stift. Aus den Wundern werden Flüche: Erinnerung wird zu Obsession, Geschmack zu Hedonismus, Schwebe zu Abgehobenheit, Genie zu Schaffenswut: „Ich erfriere hier oben“, sehnt sie sich zu ihm zurück – „Ich wurde berühmt“, vergisst er sie.
Auf der Strasse der Ameisen passieren Dinge, die sonst nicht passieren - aber es ist nicht so einfach: Es sind Lücken, wie die des Großvaters, der keinen Ort auf der Bühne hat, keinen Körper besitzt, keine eigene Geschichte erzählt, aber in allen Handlungen der andern nicht gegenwärtiger sein könnte. Es ist eine dunkle Gestalt, die einmal am Bett der genusssüchtigen Großmutter sitzt. Es ist der Freund der Nachbarin, der wie ein Hund heulend vor der Türe kniet. Sie, diese Leerstellen, bleiben bewusst, können nicht unter der Zunge überlesen werden, wer sie erfühlt, muss sie selbst füllen. Das Stück mutet den Zuschauern zu, es mit eigenen Worten fortzuschreiben. Un es mag vielleicht wie eine oberflächliche Erkenntnis klingen, grübe sie sich nicht im Laufe des Stücks bis in die Tiefe fest: Die Strasse der Ameisen ist einfach ein guter Text. An die vergessene Kunst des dramatischen Schreibens erinnert Roland Schimmelpfennig, indem er, statt stumpf um sich zu schlagen, mit scharfen Schnitten leise Stellen öffnet, die erst an dem sichtbar werden, was sie streift. Er zieht sogar die Spanne zwischen Humor und Ernst zusammen: Sein Witz wirkt nicht lächerlich, sondern lachend, sein Gewicht nicht finster, sondern dunkel. „Er ist nicht krank oder so. Er spricht nur immer von Liebe.“ An der Stelle, wo sich der Mund zum Lächeln formt, könnten die Augen auch weinen.
„Gott bewahre uns vor der Erfüllung unserer Wünsche“, hört man den Intendanten des Schauspielhaus nach dem Ende beten. „Man müsste es vielleicht nochmal genauer lesen“, meint eine Zuschauerin.