Make LGBTQ Not War!
LANDESTHEATER / FELSENREITSCHULE / HAIR
17/10/22 Manchmal hat es schon seinen Vorteil, wenn im Publikum die 60plus-Generation eine solide Mehrheit bildet. Da sind ja so viele, die mit dem Musical Hair positive Jugenderinnerungen verbinden! Am Samstag (15.10.) wurde das Publikum mit einem Schlag nostalgisch verjüngt. Kaum war der letzte Ton verklungen, Standing ovations. Die Begeisterung in der Felsenreitschule kannte keine Grenzen.
Von Reinhard Kriechbaum
Haben wir nicht alle – ja, der Schreiber dieser Zeilen ist auch so einer – mit Begeisterung sympathisiert und kokettiert mit den drogenumwölkten Hippies, mit den idealistischen Blumenkindern oder mit den Studenten, die mit dem Schlachtruf Ho-Ho-Ho-Chi-Minh auf die Straße gingen? Make Love No War, keine Frage. Und, um bei Hair zu bleiben, diesem 1987 zuerst am Off-Off-Broadway herausgekommenen und rasch zum Musical einer Lebenseinstellung, einer Epoche schlechthin avancierten Stück: Let the sunshine in!
Da brauchte es für all die 68er Gewesenen und Gebliebenen keine Aktualisierungen. Die älteren Leutlein brechen so und so auch jetzt nach jeder der einst mit Lebensheißhunger verschlungenen Musiknummern in Jubel aus. Andreas Gergen und sein Team nutzen die Option, das ältere Publikum bei seiner schönfärberischen Erinnerung zu packen. Sie zeigen uns so blumige Blumenkinder, so punkige junge Erwachsene, wie wir sie vor über einem halben Jahrhundert allzu gern gewesen wären.
Und für die Jüngeren im Publikum wird die Handlung zugleich aktualisiert. Für die alten (und wohl zeitlosen) Utopien, die in der jetzigen Großelterngeneration alsbald dem Einfamilienhäuschen im Speckgürtel der Städte und dem Zweitauto Platz gemacht haben, sind in dieser Produktion der „Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor“ und eine ansehnliche junge Statistenschar zuständig: Die brauchen sich nicht erst zu verkleiden. Das ist die Fridays for Future-Generation, die in der Felsenreitschule auch ausgiebig Raum vorfindet, um aufzumarschieren. Wollte man ätzen: Die Aufführung, so schmissig choreographiert und arrangiert sie als Ganzes daher kommt, hat auch etwas von Schulwandertag. Es geht natürlich um berechtigte Anliegen, für die jede Generation aufs Neue auf die Straße gehen sollte und das neuerdings ja auch wieder tut: Gegen den Krieg (Hauptbotschaft), gegen die Zerstörung der Umwelt, und für die Freiheit von LGBTQ sowieso.
Das alles lässt sich in Hair völlig unverkrampft einbringen, indem man plötzlich Putin himself als Ober-Rekrutierer auftauchen lässt. Mit Bertha von Suttner aber auch eine – vielleicht ein bisserl altvaterische – wichtige Gegenstimme erhebt.
Falls jemand den Inhalt nicht präsent hat: Jung-Student Claude, ein bürgerliches Landei, schneit hinein in eine Gruppe von Jugendlichen, die die Ideale der 68er-Generation ungehemmt ausleben. Er ist fasziniert von der Unangepasstheit, der sexuellen Ungezwungenheit, der Aufsässigkeit und dem Optimismus dieser Clique. Als er freilich den Einberufungsbefehl bekommt (im Original war es Vietnam, aktualisierend gilt es, gegen die Ukraine „spezial-operierend“ ins Feld zu ziehen) geht’s ans Eingemachte. Claude erlebt im Drogenrausch die Kriegsgräuel und ahnt das ihm bevorstehende Schicksal. Aber er hat dann doch nicht die Kraft, sich den vermeintlichen gesellschaftlichen Forderungen zu widersetzen. Es wird die Clique sein, die ihm Blumenkränze und eine Gedenktafel widmt zum allzeit utopischen Schönwetterbericht Let the sunshine in!
Hair steht für allzeit gültige Anliegen, die Botschaft verliert nicht an Dringlichkeit. Über die Bühnen- und Musikform lässt sich streiten. Ob die dürftige Handlung, die stenogrammartigen Spielszenen wirklich über die zweidreiviertel Stunden tragen? Ob wenigstens die Musik des American Tribal Love-Rock Musicals (so die etwas umständliche, aber zutreffende Originalbezeichnung) diese Länge rechtfertigt? Wolfgang Götz (Piano, Leitung) legt sich mit einer handverlesenen Schar von Musikern ins Zeug. Das swingt nach Kräften, knallt nicht wenig und nötigt Respekt ab ob der perfekten Koordination mit der Bühne, wo es ja nicht wenig turbulent zugeht. Das Timing passt. Dass die Musik von Galt MacDermot doch ein wenig banal und angestaubt wirkt, dafür können die Interpreten nichts. Hair war (und bleibt) ein Zeitgeist-Stück. Es traf punktgenau die Sehnsüchte einer Generation. Wenn es typisch für einen Wurm ist, sich zu winden, dann muss man Hair die Absenz von Ohrwürmern bescheinigen: Diese Musik ist betriebsam, geht aber bei einem Ohr rein und beim anderen raus. Direkt und geradlinig. Da ist das andere Stück dieser Generation, Jesus Christ Superstar, schon ein anderes Kaliber.
Aber dessen ungeachtet: Andreas Gergen, der Musical-Spezialist, ist ja einer, der auch Verstaubtes so auf die Bühne stellt, das man mitgerissen wird. Im Verein mit dem Choreographen Stephen Martin Allan, mit der Kostümbildnerin Aleksandra Kica und der Bühnenbildnerin Stefanie Seitz lässt er die Felsenreitschule gerade groß genug sein für die Turbo-Betriebsamkeit (die dann doch freilich aus immer ähnlichen choreographischen Partikeln besteht).
Das Casting hat toll funktioniert: Simon Stockinger ist ein für die Hauptrolle bestens geeigneter, variantenreicher Tenor mit besonderen lyrischen Stärken. Denis Riffel als Berger ist ein bühnenpräsenter Mit- und Gegenspieler, seine Figur mögen die Zuschauerinnen rühmen. Aaron Röll als durchgeknallter Woof, der alles LGBTQ in einer Figur zusammen bringt, macht viel Stimmung. Juia-Elena Heinrich (Sheila), Tertia Botha (Dionne), Nicola Kripylo (Crissy), die vielen anderen Mitglieder der Gang mit kleineren Solorollen: Blühende Blumenkinder. Savio Byrczak als Hud bringt die (heutige) Perspektive eines Afrika-Immigranten ein. Es sind letztlich viele aktuelle Bezüge drinnen. Hair sollte also bei den Oldies genau so ankommen wie beim jungen Publikum – ein programmierter Selbstläufer.