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Der Mensch ist doch ein Mensch. Oder?

OPER GRAZ / WEINBERG / DIE PASSAGIERIN

20/09/20 Ehemalige KZ-Aufseherin, jetzt Diplomatengattin, glaubt, auf dem Schiff nach Brasilien eine ehemalige Lager-Insassin zu erkennen... Die Passagierin packt mit der vielschichtigen opulenten Musik von Mieczysław Weinberg und mit dem literarisch anspruchsvollen Libretto nach dem gleichnamigen Roman der heute 96 Jahre alten Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz. Die Oper Graz hat mit der Passagierin eine Jahrhundertaufführung.

Von Heidemarie Klabacher

Hören wir ihnen zu, solange sie noch leben! Die polnische Autorin Zofia Posmysz überlebte Auschwitz, war Journalistin beim polnischen Rundfunk, schrieb Hörspiele, Erzählungen – und den Roman Die Passagierin, den in Töne zu fassen niemand geringerer als Dmitri Schostakowitsch dem jungen Komponisten-Kollegen Mieczysław Weinberg geraten hat. Das Libretto, basierend auf Zofia Posmysz' Roman, schrieb der russische Musikwissenschaftler Alexander Medwedew. Dieser ist am 26. Juli 2010 mit 83 Jahren in Moskau gestorben – fünf Tage nach der szenischen Uraufführung (!) der Passagierin bei den Bregenzer Festspielen.

„Ich dachte, das kann nicht gelingen, die Oper ist kein Weg, dieses ohnehin schwer ausdrückbare Thema zum Ausdruck zu bringen“, sagt die Autorin in einer jüngst auf polnisch erschienen Biografie. Ob ihr jemals auch nur ein Akkord zu Ohren gekommen ist, steht nicht im Programmheft zur aktuellen Aufführung in der Oper Graz. Allerdings gab es bislang nicht viele Möglichkeiten, das Opernmeisterwerk zu hören: Der szenischen Uraufführung 2010 in Bregenz ist einzig eine konzertante Uraufführung am 25. Dezember 2006 im Dantschenko-Musiktheater in Moskau vorangegangen. Am Freitag (18.9.) erlebte Die Passagierin von Mieczysław Weinberg ihre Grazer Premiere und Erstaufführung.

Eine alte Dame, leichtfüßig, agil, beweglich: Es ist die Hauptperson, die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa, ihr alter ego in der heutigen Gegenwart. Diese stumme Figur (Isabella Albrecht) ist immer auf der Bühne, wuselt anfangs beinah mädchenhaft durch den geradlinigen klaren Raum (Bühne Etienne Pluss), immer wieder innehaltend und immer mehr erstarrend. Bis man ihr am Ende die Nazi-Uniform wieder anlegt... Lisas Erinnerungen gehen in zwei Handlungslinien zurück in die Vergangenheit.

Eine Linie reicht in die Sechzigerjahre zur  Schiffs-Passage, auf der sie jene Marta wiederzuerkennen glaubt, die eine Gefangene in jenem Frauen-Block in Auschwitz war, der Lisas Aufsicht unterstand. Die zweite Linie reicht zurück bis in die Vierzigerjahre und hinein ins KZ. Neben der betagten gibt es auch eine blutjunge Lisa (Viktoria Riedl), ein BDM-Mädel mit blonder Zopfkrone in SS-Uniform. Erstaunlich, wie die beiden Darstellerinnen einander ähnlich sind, wie die Bilder der beiden altersmäßig so weit voneinander entfernten Frauen jederzeit zur Deckung kommen. Einer dritten Lisa in Kostüm und Society-Setting der Sechzigerjahre gehört die Opernpartie an Bord des Überseekreuzers. Ehemann Walter, er soll eine Diplomatenstelle in Brasilien antreten, fordert eine Erklärung für Lisas Verstörung angesichts einer fremden Passagierin. Lisa beginnt zu erzählen...

Was in der Beschreibung kompliziert, ja artifiziell klingt, ist auf der Bühne in der Oper Graz in der Inszenierung von Nadja Loschky ein soghaftes organisches Ineinanderfließen der einzelnen Zeit- und Erzählebenen.

Unter der musikalischen Leitung von Roland Kluttig entfalten die Grazer Philharmoniker, vermutlich zum ersten Mal für die meisten Zuhörer, die opulenten Facetten der Musik von Mieczysław Weinberg. Dank der vielfältigen Initiativen im vergangenen Weinberg-Jahr ist zumindest uns Salzburgern ja ein Gutteil der Kammermusik des Polen bekannt. Als Opernkomponist ist Weinberg musikalisch weniger radikal, dafür kompromisslos im Umgang mit der Sprache, die in jeder Partie den Rhythmus vorgibt. Gesungen wird auf Deutsch, Polnisch, Französisch, Tschechisch, Jiddisch, Russisch und Englisch: Auf dem Passagierschiff wie im KZ kamen Menschen aller Zungen zusammen. Die deutschen Übertitel sind unverzichtbar. Faszinierend ist Weinbergs Meisterschaft in der gezielten Verfremdung unterschiedlichster musikalischer Zitate. Der locker jazzige Sixties-Swing der Schiffskapelle klingt nach Tanz auf dem Vulkan. Wenn die SS-Schergen – ein grausig-grandioses Trio, dem man beim gemeinsamen Stuhlgang, wie beim besoffenen Begrapschen der attraktiven Lisa begegnet – im Walzertakt zur verfremdeten Melodie von Oh, du lieber Augustin schunkeln, dann ist das bizarr bis zum Horror.

Bewegend sind die Szenen der Lager-Insassinnen, das einander Ausmalen einer Zukunft, die die Meisten von ihnen nicht erleben werden. Das russische Volkslied, acapella gesungen von Tetiana Miyus in der Rolle der Lager-Insassin Katja, ist der tragische Höhepunkt der Oper.

Und wer ist nun die Passagierin? „Mit Marta war es nicht leicht“, erzählt die Ex-Aufseherin. Die Mezzosopranistin Dshamilja Kaiser singt die Partie der Lisa mit stupender Textdeutlichkeit, geschmeidig in den fordernden Linien, mit hellem Timbre in allen stimmlichen und emotionalen Lagen. „Mit Marta war es nicht leicht. Nicht ich habe sie, sie hat mich kleingekriegt.“ Täterin Lisa hat nicht gefoltert oder gemordet und sie hat tatsächlich Marta das Leben gerettet. Doch ihrer Motive war und ist sich Lisa nie klar geworden: „Sie hassten uns alle“, sagt sie klagend zum Ehemann Walter (ihm gibt Will Hartmann souverän Stimme und Gestalt eines Karrieristen der Sechziger, nur zu gern zur Verdrängung bereit). „Sie hassten uns alle?“ No na, möchte man sagen. Aber die Verwunderung Lisas ist echt. Die Fragen, die sich aus dieser unerklärlichen Verwunderung ergeben, sind so komplex, wie unbeantwortbar zeitlos: Hat Täterin Lisa tatsächlich Sympathie vom Opfer Marta erhofft wegen kleiner und schwer nachvollziehbarer Vergünstigungen? Zuneigung gar? War sie eifersüchtig auf Martas Freund Tadeusz (Markus Butter bewegt mit dieser kleinen aber wichtigen Partie, einem Beispiel für unbeugbaren Widerstand) oder neidete sie den Liebenden ihre Liebe, den Standhaften ihre Standhaftigkeit...

Zu den inhaltlichen Qualitäten der Oper gehört der Verzicht auf einfache Antworten. In der Rolle der Passagierin (ob es wirklich Lisas „Marta“ war, lässt das Libretto offen) brilliert sängerisch und darstellerisch Nadja Stefanoff: Wenn nach relativ langer Spieldauer mit den tieferen Stimmen zum ersten Mal ihr Sopran erstrahlt, versteht man zugleich, was für eine Lichtfigur diese charismatische Frau für ihre Mitgefangenen gewesen sein muss. „Der Mensch ist doch ein Mensch. Darin liegt unsere Hoffnung.“

Die Passagierin – sieben Aufführungen an der Oper Graz bis 11. Dezember – oper-graz.buehnen-graz.com
Bilder: Oper Graz / Werner Kmetitsch

 

 

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