Der Hauptbahnhof als Wimmelbild
SOMMERSZENE / DIE LOGE
25/06/15 Einem ungewöhnlichen Wahrnehmungstest unterzieht „ohnetitel“ das Publikum der Sommerszene. In „Die Loge“ verwandelt das Netzwerk für Theater- und Kunstprojekte Salzburgs Bahnhofsvorplatz in ein bewegtes Wimmelbild, das in jeweils 20-minütigen Episoden erforscht werden kann.
Von Christoph Pichler
Dass die Szene ihre Zelte heuer auch am Hauptbahnhof aufgeschlagen hat, ist selbst für Uneingeweihte nicht zu übersehen. So ragt neben einem kleinen Unterschlupf für Tanzensemble und Ticketausgabe ein seltsames Gerüst empor, an dessen Spitze eine barocke Theaterloge thront. Nur jeweils 15 Besuchern ist es vergönnt, diesen erhabenen Aussichtspunkt zu erklimmen, um inmitten von goldenem Stuck und rotem Samt eine von fünf 20-minütigen Episoden zu erleben.
Kaum haben sie in luftiger Höhe Platz genommen, werden die Gäste aufgefordert, die bereitliegenden Kopfhörer aufzusetzen und geduldig darauf zu warten, dass sich endlich die Vorhänge öffnen, die bislang sowohl den Blick aus der Loge als auch in die Loge verhindert haben. Nach einer kurzen Einleitung ist es dann endlich so weit: Der Sichtschutz wird zur Seite geschoben, der Bahnhofsvorplatz zur Bühne und der Logensitz zum Platz im Schaufenster. Es dauert nicht lange, bis die ersten Menschen identifiziert sind, die aus der Masse an Kommenden, Gehenden und Verweilenden herausstechen. Zumindest, wenn man den Hinweisen aus den Kopfhörern glauben schenkt, die stichwortartig die Andersartigen beschrieben: „Er, grüne Jacke, blaues T-Shirt.“
Während die Logengäste so das lebende Wimmelbild mal nach Schlendernden, mal nach Eilenden, mal nach betont Unauffälligen, mal nach schnell Hervorstechenden absuchen und dabei so manchen Unbeteiligten ins Visier nehmen, sehen sie sich auch bald selbst in der Rolle der Beobachteten. Denn natürlich fragen sich ihrerseits die Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz, was es da für die prominent platzierten Gaffer eigentlich Interessantes zu sehen gibt und wer da überhaupt mit Kopfhörern auf den Ohren aus diesem seltsamen Hochsitz lugt.
Nach 20 spannenden Minuten ist das Schauspiel für beide Seiten vorbei. Die nur für Logengäste hörbaren Suchhinweise, Gedankenfetzen und Steel-Guitar-Klänge verstummen, die Vorhänge schließen sich und es geht wieder hinab auf den nur mehr von gewöhnlichen Fußgängern bespielten Bahnhofsvorplatz. Der Blick auf das Geschehen ist nun aber irgendwie verschwommen und zugleich geschärft. Plötzlich wirkt das Normale seltsam theatralisch und werden alltägliche Bewegungen nach versteckten Bedeutungen abgeklopft. Und auch die nächsten aufstiegswilligen Logengäste stehen schon für ihre Episode bereit. Da bietet sich eine zweite Runde aus der Bodenperspektive förmlich an. Vielleicht bringt das ja die noch immer etwas schwindelige Wahrnehmung wieder etwas in Lot.