Die Literatur schuldet der Realität nichts
TAGUNG / ANNA MITGUTSCH / VERSUCHE ÜBER DAS FREMDSEIN
02/05/16 Schuldet die Literatur der Realität etwas und wenn ja, was? Wenn es Frauenliteratur gibt, müsste es dann nicht auch Männerliteratur geben? Und wie spricht man dieses englische „indefatigable“ jetzt wirklich aus? Beim Symposium „Versuche über das Fremdsein“ anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats an Anna Mitgutsch wurden diese und noch mehr Fragen aufgeworfen und - vielleicht - beantwortet.
Von Christina König
Ein halbstündiger Spaziergang durch jene Werke von Anna Mitgutsch, die Übersetzungen zum Thema haben: sei es von einer Sprache in die andere oder von Gefühlen in Worte. Danach Streifzüge durch Mitgutschs Poetik: Da geht es um „Erinnerung als Erfindung“ oder die Distanz, die nötig ist, um etwas zu erzählen. Dazwischen: jede Menge Stolz darauf, dass die besagte Autorin als Absolventin der Universität Salzburg ja quasi eine Kollegin ist…
Der Germanist Werner Michler und die Literaturvermittlerin Christa Gürtler füllen die erste Hälfte des Nachmittags mit ihren Vorträgen zum Werk von Anna Mitgutsch. Die Autorin wurde 2015 mit dem Ehrendoktorat der Universität Salzburg ausgezeichnet und mit Tagung und Lesung am Donnerstag (28.4.) von ihrer Universität gefeiert.
Tagung also. Entweder die Vorträge haben alle Fragen restlos ausgeräumt oder aber das Publikum überfordert. Denn als die beiden Redner sich noch einmal gemeinsam ans Pult stellen und auf Fragen warten, bleibt es erst einmal ruhig. Gürtler zuckt schmunzelnd mit den Schultern: „Sonst fragen wir uns gegenseitig!“ Das ist dann doch nicht nötig: Die Flüchtlingsthematik kommt auf, samt der Frage, was Literatur für die Verständigung zwischen Kulturen, für die Kommunikation tut. Ein Thema, das Anna Mitgutsch am Herzen liegt – aus ihrem Platz in der ersten Reihe steht sie auf, dreht sich zum Publikum um und erklärt gelassen: „Die Literatur schuldet der Realität nichts!“ Sie wäre nicht dazu da, die Realität darzustellen, sie wäre vielmehr eine Metapher.
Um sich das durch den Kopf gehen zu lassen, haben die Zuhörer die Kaffeepause, die sie bei Karottenkuchen und naturtrübem Apfelsaft an den Stehtischen im Gang verbringen. Dann geht es weiter mit den Vorträgen von Marlen Mairhofer, die über Mitgutschs Frauen spricht, die eben nicht den gängigen Weiblichkeitsbildern entsprechen, und Andrea Reiter, die das Motiv der Heimat im Roman „Haus der Kindheit“ ins Visier nimmt.
Gerade am Frauenthema entzündet sich die Diskussion: Anna Mitgutsch nennt ihre Romane explizit nicht feministisch und meint, literarisch geschilderte Erfahrungen sollten allgemein menschlich sein, nicht geschlechtsspezifisch.
Dafür freut sie sich über Reiters Interpretation, die eine Löwenstatue in „Haus der Kindheit“ als jüdisches Symbol sieht und damit eine Verknüpfung zur Ermordung der Juden im Nationalsozialismus sieht, passend zum Thema des Buches. Sie schmunzelt: „Ich find’s ja immer toll, wenn die Germanisten was ‚rausfinden, was mir neu ist!“ Insofern also ein lohnender Nachmittag – denn die Germanisten haben bestimmt auch einiges herausgefunden, das ihnen selber neu ist.