Vom Innehalten, das andauert
RAURISER LITERATURTAGE / LESUNGEN GRAF UND MADER
08/04/21 Unter den Themen „Innehalten“ und „Abstand“ sind die Rauriser Förderungspreise 2020 und 2021 ausgeschrieben worden. Womit beide, Zweiterer absichtsvoll, Ersterer unabsichtsvoll, auch Parallelen zu pandemiebedingten Umständen ziehen lassen. „Abstand“ kommt auf je eigene Weise in beiden Texten vor.
Von Simone Lettner
Gleich vorneweg: Die technischen Störungen, die gestern Mittwoch (7.4.) im Rahmen der Eröffnung der digitalen Rauriser Literaturtage bei den zugeschalteten Beiträgen bestanden haben, haben sich heute Donnerstag (8.4.) vormittags nicht wiederholt. Das ist gut so. Sowohl die Laudationes als auch die Texte der Förderungspreisträgerin 2020 und des Förderungspreisträgers 2021 haben es wahrlich verdient, die störungsfreie, ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhalten.
Den Anfang hat der Förderungspreis 2020 gemacht. Dieser wurde Vanessa Graf von der dreiköpfigen Jury (Liliane Studer, Ludwig Hartinger, Erika Wimmer) für den Text Genauso schwarz wie hier zuerkannt. Selbst wenn das Motto für 2020, „Innehalten“, nicht auf die Covid-19-Pandemie zugeschnitten war, lädt die daraus resultierende Situation doch ein, sich Zeit zu nehmen, um einmal innezuhalten. Dieses Innehalten ist etwas, das der Text von Vanessa Graf der Laudatorin Erika Wimmer zufolge mustergültig kann. Und dabei handelt es sich nicht nur um ein Innehalten für einen Moment, sondern um ein Innehalten, das andauert.
Wimmer hob in ihrer Laudatio hervor, dass der Text, der sich mit der Krankheitsgeschichte einer Mutter befasst, sich durch seine Konzentriertheit und Klischeebefreitheit auszeichnet. Der Text bleibe einfach, wirke nie gestelzt und verzichte auf Zerstreuung. Ein motivischer Schwerpunkt sind die in der Erzählung auftretenden schwarzen Schachteln. Diese sind Stolpersteine oder Mahnmale für eine Veränderung, die das erzählende Ich verdrängen will. Die Verdrängungsversuche reflektiert die Erzählstimme in der Rückschau: „Mir fiel nichts auf. Jetzt denke ich mir, mir hätte alles auffallen sollen.“ In dem Ausmaß, in dem die Distanz zur Mutter größer, diese also weniger greifbar wird, werden die Kisten zudringlicher, penetranter. Sie können aber selbst nicht ‚penetriert‘ werden, sie erweisen sich als unzugänglich: Die Suche nach einer Öffnung der Kisten durch die Protagonistin bleibt vergeblich.
Der Preistext 2021 von Martin Mader trägt das Jahresmotto in seinem Titel. Abstand ist überall heißt der von Zita Bereuter, Christine Rechberger und Klaus Seufer-Wasserthal mit dem Förderungspreis 2021 prämierte Text. Zita Bereuter stieg in ihre Laudatio ein mit der Bemerkung: „Ein Dramaturg also.“ Womit sie auf Maders Biographie ebenso Bezug nahm wie auf eine bestimmte Textqualität von Abstand ist überall. Als Parallelismus trat dieser Einstieg in Bereuters Laudatio mehrfach auf und zeigte an, was Mader außerdem ist: Lyriker („Ein Lyriker also“), Philosoph („Ein Philosoph also“) und Literaturwissenschaftler („Ein Literaturwissenschaftler also“).
Die Vielfältigkeit ist insbesondere auf den Text selbst gemünzt, und die formale Konstruiertheit von Bereuters Struktur kann ebenfalls als Hommage an den Text direkt verstanden werden. Dieser ist auf der Makro- und auf der Mikroebene nämlich von zahlreichen Wiederholungsstrukturen geprägt. „Die Form steht bei Martin Mader immer ein bisschen über dem Inhalt“, hieß es bei Bereuter. Tatsächlich dominiert die Form den Inhalt in Abstand ist überall so sehr, dass es schwer fällt, neben der rhythmischen Gefangennahme durch den Text dessen inhaltliche Orientierung wahrzunehmen.
In Maders Text treten anfangs „eindringliche Stimmen“ auf, wobei hier eine Wiederholung auch auf der Ebene der Performativität auszumachen ist: Mader selbst ist beim Vorlesen der permanenten Wiederholungsmuster seines Textes eine ‚eindringliche Stimme‘. Die Handlung der Erzählung bleibt offen, viele Möglichkeiten, wie die Erzählung gedeutet werden kann, können vage nebeneinander stehen. Dennoch wird deutlich, dass es sich bei dem Text um eine durch und durch absichtsvolle Unternehmung handelt.
Resümierend kann gesagt werden, dass die Lesungen des heutigen Donnerstag-Vormittags zwei bemerkenswerte Texte vorgestellt haben, die den Förderungspreis der Rauriser Literaturtage verdient haben.