Eine große glückliche Familie
BUCHBESPRECHUNG / LITERATURFEST / HAIDEGGER / ZUM FENSTER HINAUS
20/05/16 Zu viel PHANTASIE bescheinigt der Zeichenlehrer seiner jungen Schülerin Irene. Sie malt nicht einfach die Tannen grün und den See blau, sondern zeichnet alles in vielen verschiedenen Schattierungen. Mit diesem genauen Blick betrachtet Christine Haideggers Ich-Erzählerin nicht nur Natur und Menschen, sondern auch die Nachkriegswelt der Vierzigerjahre in Österreich – und sich selbst.
Von Christina König
„Zuerst die Wörter. Zuerst PAPA. Das ist wichtig. … Papa ist in RUSSLAND. Noch kann ich Russland nicht sagen. Kann es nicht denken. Aber ich höre viel davon.“
Kindlich, aber nicht kindisch, manchmal umgangssprachlich und voller Wörter in Großbuchstaben – Christine Haidegger schenkt ihrer einzigartigen Protagonistin eine einzigartige Stimme. In der Neuauflage ihres Romandebüts von 1979 verwebt sie Irenes Kindheitsgeschichten ungekünstelt mit dem Alltag der Nachkriegszeit und stellt sie gleichberechtigt nebeneinander.
Irene erzählt in der Ich-Perspektive vom Unfall beim Schlittenfahren, als sie eine vereiste Stiege hinunterrodelt, und vom heimlichen Anschrauben einer Antenne an das Radio, um „BIBISSI“ zu hören, auch wenn das VERBOTEN ist. Vom kratzigen Sonntagskleid und von ihrer Mama, die den „KAZETTLERN“ Zigaretten vor die Füße fallen lässt, während der Aufseher sich umdreht und wegsieht. Vom bösen Pony Maxi im Zirkus, das immer auskeilt, und von ihrem Papa, der im Krieg verschollen ist.
Haidegger verzichtet auf Vorurteile oder Klischees. Stattdessen schreibt sie einfach über Personen: über die lüsterne Vermieterin Frau Auböck, die ständig Männer bei sich hat und Irenes Mutter ausnutzt, die ja doch nur eine DEITSCHE ist; über Herrn Pirkner, ehemals bei der Waffen-SS, der illegal bei Irenes Familie lebt und Grabsteine für seine verstorbenen Kinder Susi und Peter aufstellt; und über Irenes herzensgute Mama, die von allen nur das Beste glauben will und sich mit Näharbeiten über Wasser hält, um ihrer Tochter eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Mit elf Jahren kommt Irene ins Eliteinternat, wo alles nach VORGESCHRIEBENER Ordnung geschehen muss: Um fünf Uhr zwanzig muss aufgestanden werden. In alle Unterhosen muss die Nummer des Kindes eingestickt werden. Das Kind muss mit dieser Nummer angesprochen werden. In den Pausen müssen Übungen gegen Haltungsschäden gemacht werden. Alle müssen glücklich sein. Sonst gibt es Strafpunkte.
Die Regeln, die ständigen Leistungsnachweise, das Heimweh, all das verändert Irene: Die Großbuchstaben verschwinden, der Tonfall, vorhin oft komisch in seiner Ernsthaftigkeit, wird erwachsener. Sie beginnt, Fragen zu stellen, über die Welt, über Glück und Unglück, über die Gutgläubigkeit ihrer Mama und über ihre eigene Traurigkeit: „Mein ganzes Denken in letzter Zeit ist Fragenstellen.“
Im Tagebuch- und Geschichtenschreiben findet sie zwar keine Antworten, aber zumindest eine Stütze, die ihr durch die Einsamkeit hilft. Bis die Gedanken zu viel und zu schwer werden. Haideggers Roman ist nicht nur „noch eine Nachkriegsgeschichte“, er ist auch und vor allem die Geschichte eines ungewöhnlichen, talentierten Mädchens, das die Welt verstehen will – und dabei an sich selbst scheitert.
„Ich weiß, daß ich das Richtige tue. Ich bin so müde von all dem Denken in der letzten Zeit. Nun will ich mir nichts mehr überlegen. Es wird gut sein, nichts mehr denken zu müssen. … Ich bin so allein hier. … Niemand dürfte so alleingelassen werden. Jemand hätte merken müssen, daß ich Hilfe brauche. … So, wie ich das merke.“