Der lange Atem zahlt sich aus
DIAGONALE / NIKOLAUS GEYRHALTER, PETER SCHREINER
19/03/15 „Über die Jahre“: Das deutet schon vom Titel her an, dass man sich Zeit nehmen muss – wie für manchen anderen Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter. Bei der „Diagonale“ in Graz ist dem Dokumentarfilmer eine Personale gewidmet.
Von Reinhard Kriechbaum
Als Österreichische Erstaufführung (nach der Uraufführung auf der Berlinale) ist das neueste 188-Minuten-Opus von Geyrhalter am Mittwoch spätabends in Graz gezeigt worden: „Über die Jahre“ hat Geyrhalter eine Gruppe Menschen im Waldviertel vor die Kamera gebeten. Sie arbeiteten bei der Textil-Traditionsfirma Anderl und sind mitsamt en maroden Gebäuden, den antiquierten Webereimaschinen und dem Firmenchef quasi aus der Zeit gefallen. 2004 kam das Aus für die Firma. Nun ist das Waldviertel fürwahr kein Hotspot an Job-Optionen, schon gar nicht für ältere, angelernte Arbeiter. Über zehn Jahre hat Geyrhalter Einzelne beobachtet. Kaum einer hat einen Umstieg, einen Wiedereinstieg geschafft. Typische Langzeit-Arbeitslose. Sie sind zwar wirtschaftlich gut aufgefangen vom Sozialnetz, aber die Identität stiftende Wurzel „Erwerbsarbeit“ ist abgeschnitten. Über Arbeitsmangel klagen trotzdem die wenigsten. Der Garten, der Wald, das schmucke Einfamilienhaus – da wissen sie sich schon auch tagesfüllend zu beschäftigen. Die Seelentragödien sind ganz leise, lauern tief drinnen.
Die Verrichtungen in der Firma hat Nikolaus Geyrhalter in der für ihn typischen, von ruhigen Einstellungen, deutlichen Schnitt-Zäsuren und sparsamen Texten geprägten Doku-Sprache zuerst aufgenommen: Was für ein Set! Solche Dekorationen getraute sich kein Ausstatter zu entwerfen. Dann also die Lebens-Bilder. Unendliche Geduld bringt Nikolaus Geyrhalter auf, wenn er den Menschen gegenüber steht. „Es gibt keine Fragestellungen im eigentlichen Sinn“, erklärt der Filmemacher. Für ihn war nicht planbar, was das Leben für all diese „Einzelfälle“ bereit hält, was es nach fünf, zehn Jahren zu beobachten, zu breichten geben wird. Geyrhalters Eigenart ist, sein gegenüber nicht zu drängen. Einen ähnlich langen Atem, wie ihn der Regisseur und behutsam Nachfragende aufgebracht hat, wird auch vom Zuschauer verlangt. Es lohnt sich, durchzuhalten. Des Waldviertels Arbeits-Antihelden sind berührend.Und „Über die Jahre“ ist, so nebenbei, kein Werbefilm fürs angeblich wirtschaftlich so wundersam prosperierende Pröll-Land.
Szenewechsel, nach Lampedusa. Kultfilmer Peter Schreiner hat mit „Lampedusa“ eine ganz eigenwillige Symbiose aus Dokumentation und Spielfilm geschaffen. Da kommen zusammen: ein junger Schwarzafrikaner, der ein Vierteljahrhundert nur Krieg erlebt hat, über die Adria geflohen ist und es in Italien zum bekannten, Flüchtlings-engagierten Journalisten gebracht hat. Und eine alte Frau, die es aus dem gebirgigen Norden Italiens an den weitest südlichsten Punkt ihres Landes verschlagen hat. Flüchtling und Aussteigerrin, dazu als Dritter ein Mann aus Lampedusa, der die Bootsbauerei an den Nagel gehängt hat (oder genauer: sie an den Nagel hat hängen müssen). Drei, die im weitesten Sinn über das Leben nachdenken, über das Weiter- und Fortkommen – in die Welt, aus der Welt. Ein philosophischer Film, den Peter Schreiner schwarzweiß gehalten hat (die Gedanken der Protagonisten sind Farbe genug). Wie leicht bewegte Kunstfotografie mutet das an. „Echt“ sind die Handelnden, ihr Zusammentreffen hat der Regisseur vor Ort arrangiert. Sie „spielen“ alss vor der Kamera sich selbst, sind sie selbst und doch Darsteller im weiteren Sinn. Eine vage, zum Nachdenken anstiftende Sache.
Viel Geduld braucht man auch für „Lampedusa“, die 130 Minuten erfordern Aufmerksamkeit und ein genaues Beobachten und Hinhören. Fast unhörbar leise Szenen von einer Insel, die als Schreckensort wahrgenommen wird. Auch wenn die Protagonisten im Grunde dauernd vor sich hin philosophieren.